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Selbstbestimmung Abtreibung Behinderung

in der AS.ISM4 – Streitschrift gegen sexistische Zustände

Niemandem gefällt es, wenn immer andere bestimmen, was man tun und lassen soll. Darum wehren sich Menschen gegen Unterdrückung und Diskriminierung. Sie schließen sich zu Bewegungen zusammen, um für ihre Selbstbestimmung zu kämpfen. Um eine Person zu sein, die selbst entscheiden kann, muss man als autonome, zu freien Entscheidungen über die eigene Lebensführung fähige und berechtigte Person gesellschaftlich anerkannt werden. Dies wurde früher nur weißen, heterosexuellen, bürgerlichen Männern* zugestanden – Frauen* und Behinderte mussten sich das erst erkämpfen.

Für die westliche feministische Bewegung ist Selbstbestimmung gleichzeitig Weg und Ziel der Selbstbefreiung. In der BRD bildete sich diese Idee im Kampf gegen das Abtreibungsverbot seit Anfang der 1970er Jahre heraus. Das Konzept Selbstbestimmung wird als Abwehr äußerer Einflüsse auf die Entscheidungen von schwangeren Menschen verstanden. Soziale Bewegungen gebrauchen den Begriff aber gewöhnlich in einem weiteren Sinne, der die Hoffnung beinhaltet, dass mit der Erweiterung der persönlichen Autonomie der Einzelnen auch die ganze Gesellschaft freier wird.

An der Abtreibungsregelung wurde und wird kritisiert, dass Schwangere nicht selbst über ihren Körper und ihre Fruchtbarkeit, also ob sie Kinder bekommen wollen oder nicht,entscheiden dürfen. Rechtlich wird das in Deutschland durch den Paragraphen 218 ff. im Strafgesetzbuch geregelt, der unter anderem Schwangere dazu verpflichtet, vor einer Abtreibung zu einer Zwangsberatung zu gehen. Außerdem gibt es eine moralische Verurteilung von Frauen*, die kein Kind haben wollen und deswegen abtreiben wollen oder abgetrieben haben. Die feministische Bewegung arbeitet neuerdings wieder verstärkt daran,diese Verbote abzuschaffen und dafür, dass die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch akzeptiert und nicht kritisiert wird.

Wenn Menschen schwanger sind und ein Kind bekommen wollen, gibt es viele vorgeburtliche Untersuchungen (Pränataldiagnostik). Dies ist mittlerweile ein normaler Vorgang im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere geworden, die immer mehr Personen wie selbstverständlich in Anspruch nehmen. Manche dieser Untersuchungen sind wichtig und notwendig, damit es der schwangeren Person und dem werdenden Kind gut geht und sie gesund sind. Die meisten Untersuchungen suchen aber nach möglichen Behinderungen und Abweichungen des Fötus. Diese Untersuchungen erzeugen sehr viel Unsicherheit und Angst bei den Betroffenen. Wenn eine Behinderung des Fötus festgestellt wird, kann man meistens nichts unternehmen, damit es der schwangeren Person und dem späteren Kind besser geht. Zwar kann es sinnvoll sein, von bestimmten Behinderungen zur Vorbereitung der Geburt zu wissen. Oft steht die schwangere Person nach einer Diagnose aber vor der Entscheidung, ob sie das Kind „trotzdem“ bekommen will, oder ob sie deswegen eine Abtreibung haben will. In der heutigen gynäkologischen Praxis gehen die verschiedenen Funktionen der pränatalen Diagnostik für die schwangere Person meist ununterscheidbar ineinander über.

In der feministischen Bewegung thematisierten Frauen* mit Behinderung ihre besondere Situation in Bezug auf Schwangerschaft und Kinderkriegen. Nicht behinderte Frauen* sollten Kinder bekommen, um gesellschaftlich anerkannt zu werden. Ihnen wurde der Zugang zu Verhütungsmitteln, Sterilisation und Abtreibung erheblich erschwert. Bei Frauen* mit Beeinträchtigungen war dies jedoch genau umgekehrt. Behinderte wurden nicht als Frauen* mit sexuellen Bedürfnissen und Kontakten wahrgenommen. Für sie waren Schwangerschaft und Mutterschaft nicht vorgesehen, Sterilisationen waren verbreitet – auch ohne die Einwilligung der Betroffenen. Ein Wunsch nach einem Kind von einer behinderten Frau* wurde als absurd angesehen, und es gab die weit verbreitete Annahme,dass behinderte Mütter* ihre Kinder nicht versorgen könnten. Behinderten Personen wurde eine Abtreibung häufig sogar nahegelegt statt enorm erschwert. Auch die ärztliche Befürchtung, die Kinder könnten ebenfalls behindert sein, spielte eine Rolle. Die Feminist*innen mit Behinderung lehnten die vorgeburtliche Suche nach Abweichungen und Behinderungen und die Abtreibung von als behindert diagnostizierten Föten explizit ab.

Behinderung wird trotz allem Reden von „Inklusion“ vielfach immer noch mit Sorgen, Leid und Schmerzen verbunden – eine ableistische und behindertenfeindliche Einstellung. Die gesellschaftliche Bereitstellung von Ressourcen für die gezielte pränatale Suche nach Abweichungen und Behinderungen (via Regelfinanzierung durch die Krankenkassen) zeigt, dass es weiterhin als normal und unproblematisch gilt, Behinderung um beinahe jeden Preis vermeiden zu wollen. Kinder mit Behinderung gelten als unzumutbare Mehrbelastung.

Die geläufigen Vorstellungen von Behinderung und dem Leben von Menschen mit Behinderung beruhen auf einem medizinisch-individualistischen Modell von Behinderung. Demnach ist eine Behinderung ein körperliches oder geistiges Defizit, das es zu behandeln gilt um eine größtmögliche Normalität herzustellen. In dieser biologistischen Wahrnehmung ist eine Behinderung ein großes individuelles Unglück, das zu einem leidvollen Leben verdammt. Die angenommene Andersartigkeit macht Behinderte zudem zur Projektionsfläche für Ängste vor Schmerzen, Abhängigkeit, Immobilität und Verlust von Kontrolle. Statt sich klarzumachen, dass dies eine grundlegende menschliche Situation ist, die eben eintreten kann, verdrängen nicht behinderte Menschen die Bedrohung ihrer eigenen „Normalität“ durch Krankheiten und Unfälle und übertragen das Leiden auf die anderen. Das zentrale Selbstbild als autonomes, selbstbestimmtes Subjekt, das selbstdiszipliniert und -kontrolliert, frei und gesellschaftlich funktionstüchtig ist, lässt Verletzlichkeit, Schwäche und Kontrollverlust als bedrohlich erscheinen. Dieses gesellschaftlich dominante Bild von Behinderung erschwert es, sich vorzustellen, dass ein Kind, käme es mit einer Behinderung zur Welt, ein ganz gutes Leben haben könnte. In den auf Mängel ausgerichteten Blick gerät nur, was es alles eventuell nicht können wird.

Den eigenen Bedürfnissen folgen zu können, statt starren Moralvorstellungen, ist ein Fortschritt. Der hat aber seinen Preis: Allgemein verbreitet ist die Meinung, dass wer selbst entscheiden darf, auch allein dafür sorgen muss, dass die Entscheidung richtig ist. Wenn irgendetwas schief geht, ist man demnach selbst schuld. Es gilt, das Leben unter Kontrolle zu halten,sich vor Eventualitäten und Zufällen zu hüten. Das Versprechen von Freiheit enthält so auch die Pflicht, die richtige Entscheidung zu treffen und die Freiheit gut zu nutzen – damit ist in der Regelgemeint, so entschieden zu haben, dass andere die Entscheidung nachvollziehen können. Wenn nicht, gerät man schnell unter Verdacht, falsch entschieden und damit die Freiheit missbraucht zu haben. Dieses Freiheitsversprechen hat also seine Tücken. Das absolut autonome, unabhängige Subjekt gibt es nicht. Vielmehr macht das Streben danach die grundsätzlich menschliche Bedürftigkeit und Aufeinander-Angewiesenheit unsichtbar. Der Appell an das Subjekt, wahrhaft selbstbestimmt und sich selbst verwirklichend zu leben, ohne dabei die patriarchalen und kapitalistischen Spielregeln infrage zustellen, ist unmöglich zu erfüllen. Bedürfnisse sind immer abhängig von den kulturellen, historischen und ökonomischen Situationen, es gibt keine Möglichkeit, wahre Wünsche und authentische Bedürfnisse auszumachen.

Es ist daher prinzipiell feministisch und emanzipatorisch, die Konstruktion, wir alle könnten autonome Subjekte sein, die umsichtige und gute Entscheidungen treffen, zurückzuweisen. Es war immer schon eine Grundmotivation feministischer Kritik, das Unerträgliche an anscheinend normalen Zuständen aufzudecken und diese damit veränderbar zu machen.

zum Weiterlesen

Kirsten Achtelik: Selbstbestimmte Norm. Feminismus, Pränataldiagnostik, Abtreibung. Berlin: VerbrecherVerlag, 2015.

Rebecca Maskos. Was heißt Ableism? Überlegungen zu Behinderung und bürgerlicher Gesellschaft. In: arranca! 43 (2010).

ak moB: Arbeitskreis mit ohne Behinderung – Eine Berliner Gruppe von Menschen mit und ohne Behinderung, die theoretisch und aktivistisch zur Dekonstruktion von Behinderung arbeitet: