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„Institutionen werden wieder total“

Interview WissenschaftlerInnen der Alice Salomon Hochschule positionieren sich zur Corona-Krise. Professorin Swantje Köbsell beklagt mangelnde Solidarität bei deren Bewältigun. Im Freitag, 19.05.20

14 Wissenschaftlerinnen haben heute eine Stellungnahme zur Corona-Pandemie und ihren Folgen veröffentlicht, in der sie fordern, „partizipative, differenzierte Strategien“ zu entwickeln, die „die Gesundheit, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit der gesamten Bevölkerung“ berücksichtigen. Alle Autor_innen forschen und lehren an der Alice Salomon Hochschule für Soziale Arbeit, Gesundheit und Erziehung. Dr. Swantje Köbsell ist Professorin für Disability Studies.

der Freitag: Was ist ihr Ziel mit der Veröffentlichung dieser Stellungnahme gerade jetzt?

Swantje Köbsell: Die Stellungnahme ist eine Initiative der ASH, die Autor_innen kommen aus all unseren Studiengängen, wie Soziale Arbeit, Gesundheits- und Pflegemanagement, Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit und Physio- und Ergotherapie. Es geht darum, den Fokus zu erweitern und andere Perspektiven anzubieten, die in der Pandemie eben auch wichtig sind. Wir hoffen, dass sich noch weitere Kolleg_innen anschließen.

In der Stellungnahme ist von der Logik eines zu engen Gesundheitsverständnisses die Rede, das nicht gegen demokratische Grundätze und Rechte von Bürger_innen ausgespielt werden dürfe. Was meinen Sie damit?

Wir wenden uns dagegen, jemanden pauschal zu einer Risikogruppe zu rechnen, ohne zu differenzieren. Der Mensch als soziales Wesen ist eben auch auf soziale Kontakte angewiesen, was zu einer breiten Definition von Gesundheit dazugehört. Bis zu den Lockerungen hat das zu Recht kaum eine Rolle gespielt, weil es dem Virus natürlich egal ist, warum Menschen Kontakt haben. Aber jetzt kann und sollte man diese Aspekte wieder stärker beachten. Wir problematisieren damit auch das Risikogruppenkonzept, dass gegen jede medizinische Evidenz davon ausgeht, dass es Menschen mit Risiko gibt, die es wahrscheinlich schlimm erwischt und die anderen, die kaum etwas zu befürchten hätten, und eigentlich frei leben könnten. Die Risikogruppe ist in so einer binären Konstruktion daran schuld, dass alle andern nicht Party machen dürfen.

Diese Stellungnahme prangert einige Missstände an, die bereits vor der Corona-Pandemie deutlich waren. Ist das ein Versuch, die Krise als Chance zu nutzen?

Das ist ja die Hoffnung vieler, dass das Gesundheits- und Sozialsystem durch die Pandemie so durchgeschüttelt wird, dass an einigen Stellschrauben tatsächlich etwas grundsätzlich zum Positiven verändert wird. Schon davor waren viele Dinge schlecht, wie die personelle Unterversorgung in den Krankenhäusern oder die Situation von Geflüchteten an den europäischen Grenzen, die jetzt dramatisch schlecht geworden sind. Wir halten es für nicht vertretbar, dass bestimmte Gruppen jetzt lange ganz ohne Unterstützung bleiben mussten, wie Obdachlose oder Familien, die auf Unterstützung angewiesen sind. So abgeschlossen hat das System Familie in Deutschland schon lange nicht mehr funktionieren müssen, wie in den letzten Wochen. Für die Menschen, die sich selbst Hilfe suchen können, ging das in den letzten Wochen wahrscheinlich auch irgendwie, aber die Familien, bei denen es den Blick von außen braucht, damit blaue Flecken bemerkt werden oder dass ein Kind sich nicht ausziehen will zum Sport, die sind alleine gelassen worden.

Sie richten sich gegen eine „partikulare Solidarität“ und plädieren für eine unteilbare Solidarität, worauf bezieht sich das?

Die ASH versteht sich als Institution, die sich gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten einsetzt. Die Autorinnen haben Expertise in verschiedenen Feldern der SAGE-Berufe (Soziale Arbeit, Gesundheit, Erziehung und Bildung); eine Kollegin hat ihren Schwerpunkt in der Arbeit mit Obdachlosen, andere in den Gesundheitswissenschaften und der Pädagogik der frühen Kindheit, ich selbst in Disability Studies. Uns war es wichtig, die Felder nicht gegeneinander zu stellen und jeweils die Partikularinteressen einer Gruppe zu betonen, sondern einen „großen Wurf“ zu machen, indem wir darauf hinweisen, dass es viele benachteiligte Gruppen in unserer Gesellschaft gibt, die durch die derzeitige Situation noch stärker betroffen sind. In dem Sinne von „Leave no one behind“ haben wir einen breiten Blick auf soziale Ungleichheiten und die dahinterliegenden Ausgrenzungsmechanismen und Machtverhältnisse geworfen. Es soll also nicht nur „armen Menschen, denen es schlecht geht“ geholfen werden, vielmehr wollen wir eine tatsächlich solidarische Perspektive eröffnen.

In Bezug auf Menschen mit Behinderung gibt es hauptsächlich die Forderung nach barrierefreiem Zugang zu Informationen und eine Kritik daran, an den Diskussionen um die Empfehlungen zur Triage (wer in Mangelsituationen versorgt wird) nicht beteiligt worden zu sein.

Es geht dabei natürlich nicht darum, dass wir mitentscheiden wollen, wer kein Atemgerät bekommt, sondern darum, dass es überhaupt eine breite gesellschaftliche und politische Debatte braucht, was da als Kriterien angesetzt werden. Auch in Pandemiezeiten ist es wichtig, Transparenz herzustellen. Die Institutionen werden wieder richtig total; Altenheime, Behindertenheime, Einrichtungen für Geflüchtete, die Unterbringung von Erntehelfer_innen und Gefängnisse sind im Lockdown zu geschlossenen Systemen geworden, in die kein Besuch mehr kommt und aus denen die Menschen nicht mehr herausgekommen sind, aber auch keine Informationen. Darum ist die Stellungnahme auch ein Appell, solchen Tendenzen entgegenzusteuern und alle Gruppen im Blick zu behalten.