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Dem Krebs sind Himbeeren egal

Komplementäre Methoden bei Krebserkrankungen in Mabuse 256 (2/2022)

Naturheilkunde und „alternative Medizin“ sind bei Brustkrebspatient*innen sehr beliebt. Deswegen habe ich mir mal die neuen Leitlinien zu Komplementärtherapien angeschaut. Spoiler: Nichts genaues weiß man nicht. Mabuse-Texte sind nicht online, deswegen nun hier nachzulesen. Und aus gegebenen Anlass: Homöopathie ist keine Medizin, sondern Hokuspokus.

Bis vor wenigen Jahrzehnten hat sich die Medizin kaum um eine Bekämpfung der Nebenwirkungen von Krebstherapien gekümmert. Es gab nur wenige Therapiemöglichkeiten, die alle sehr anstrengend für die Patient:innen waren – aber man war froh, überhaupt Mittel gegen diese tödliche und komplizierte Krankheit zu haben. Dass es den Betroffenen nicht gut ging, sie sich tagelang erbrachen, Schmerzen am ganzen Körper hatten, irreparable Nervenschäden behielten, schien ein geringer Preis für das Überleben. Mit der Zunahme an wirksamen Therapieformen – Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, Antihormontherapie – und dem Wissen über ihre Wirkungen und Nebenwirkungen konnten sie wirksamer dosiert werden.

Großes Angebot an Mitteln gegen Nebenwirkungen

Die möglichen Nebenwirkungen der verschiedenen Therapien sind aber weiterhin strapazierend für Körper und Psyche. Für einige Nebenwirkungen wie Übelkeit und Erbrechen gibt es gute, erprobte Medikamente. Für andere wie Polyneuropathie, das sind Missempfindungen hauptsächlich in den Händen und Füßen, die sich bis zu bleibenden Nervenschäden entwickeln können, gibt es keine anerkannte Therapie. Im Hinblick auf die meisten potenziellen Nebenwirkungen ist mittlerweile ein riesiger Markt entstanden: Es gibt Ratgeber, Diätempfehlungen, Körperübungen und heilpflanzlichen oder homöopathischen Mittelchen. Die Versprechen sind bedeutend, die Preise auch, die Evidenz jedoch gering.

Nach Angaben der Deutschen Krebsgesellschaft nutzen etwa die Hälfte der Betroffenen ergänzende Methoden, bei Brustkrebspatient:innen wird sogar von über 90 Prozent ausgegangen. Zu Letzteren gehörte im vergangenen Jahr auch ich, in den langen Stunden der Chemotherapie konnte ich den Diskussionen über die verschiedenen Hilfsmittel und Präparate zuhören. Auch in den verschiedenen einschlägigen Facebook-Gruppen werden die Optionen fleißig diskutiert. Die eine schwört auf dies, der andere auf jenes. Auch Bekannte und Verwandte sind mit Vorschlägen, was Betroffene tun oder lassen sollen, schnell bei der Hand. Da die Nebenwirkungen recht unterschiedlich sind und vieles schon vorbeugend genommen wird, hat das Meiste nur anekdotische Relevanz – wenn eine Nebenwirkung nicht oder kaum auftritt, kann man halt nicht wissen, ob man auch ohne das Mittelchen verschont geblieben wäre.

Erste Leitlinie benennt Wissenslücken

Im September des vergangenen Jahres haben die großen onkologischen Fachgesellschaften daher die erste Leitlinie zum Einsatz von Komplementärmedizin in der Onkologie herausgegeben.3 Allein die Kurzversion ist 188 Seiten lang – es gibt eben sehr viele verschiedene Nebenwirkungen und ziemlich viele Mittel und Methoden, sie zu behandeln. Eine Version für Lai:innen, die vermutlich kürzer und übersichtlicher sein wird, ist in Arbeit.

Die neue Leitlinie warnt vor einigen Methoden und empfiehlt andere, vor allem aber weist sie auf große Wissenslücken hin: „Es gibt zu einigen dieser Gebiete bisher kaum Forschung in Form randomisierter klinischer Studien, weshalb man die klinische Wirksamkeit […] nicht ausreichend beurteilen kann.“ Aber auch die „fehlende Aus-, Fort- und Weiterbildung von Ärzten“ wird bemängelt. Die Leitlinie soll nun ein „präzises Nachschlagewerk“ für alle in der Onkologie Tätigen schaffen, „das es ermöglicht Patientenfragen evidenzbasiert zu beantworten, ggf. aktiv Empfehlungen auszusprechen bzw. von konkreten Maßnahmen und Verfahren abzuraten“.

Die Leitlinie gibt Empfehlungen zu Nebenwirkungen von Angst bis zerebrale Ödeme und zu Methoden von Akupunktur bis Yoga, zu Mitteln von Carnitin bis Vitaminkombinationen. „Keine ausreichenden Daten für Empfehlung“ ist dabei allerdings die mit Abstand am häufigsten getroffene Feststellung, die Bewertung „soll“ oder „sollte“ wird nur ganze sieben Mal vorgenommen, vor allem für körperliche Bewegungspraktiken. Mehr als 20 Mal wird ausdrücklich abgeraten. Weder sollten Patient:innen demnach ihre Ängste mit Bioenergiefeld-Therapien noch Neuropathien mit Vitamin E behandeln. Für die allermeisten Praktiken und Mittel sagen die vorliegenden Leitlinien allerdings weiterhin, dass man halt leider nicht weiß, ob es wirkt.

Um zu Bewertungen zu kommen, braucht es mehr und große vergleichende Studien, die wiederum Geld und Zeit kosten. Wer diese für welche Methoden und Mittel mit welchen Ressourcen anfertigen soll, ist unklar. Für die neue Leitlinie wurden bereits existierende Studien zusammengetragen.

Positiver Einfluss von Selbstwirksamkeit

Eine Krebsdiagnose ist schockierend und verunsichernd – es ist eine potenziell tödliche Krankheit, die der Körper selbst durch Zellmutation produziert. Manche Betroffene fühlen sich von ihrem Körper verraten, viele möchten mit Veränderungen ihres Lebensstils zur Heilung beitragen und dadurch wieder mehr Kontrolle fühlen. Die Behandlung von Krebs zeichnet sich durch viele Aufklärungsgespräche und notwendige Zustimmungen aus – da die Behandlung gravierende Nebenwirkungen hat, muss man unterschreiben, dass man das verstanden hat und in Kauf nimmt. Da die vorgeschlagenen Behandlungen jedoch meist recht alternativlos sind oder die andere Behandlungsoption nur andere, aber nicht weniger Nebenwirkungen hat, wirkt der Zustimmungsprozess formelhaft. Die Beschäftigung mit Komplementärmedizin und Ernährungsumstellung kann zu dem angenehmen Gefühl beitragen, der Situation nicht hilflos ausgeliefert sein, sondern selbst aktiv werden zu können.

Dieses Gefühl von Selbstwirksamkeit ist neben den tatsächlichen hilfreichen Auswirkungen der verschiedenen Methoden ein wichtiger Faktor für den Behandlungserfolg. Die Patient:innen müssen langwierige und anstrengende Therapien durchhalten. Wenn sie diese nicht nur über sich ergehen lassen, sondern selbst etwas beitragen können, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie durchhalten. Und auch schlimme Nebenwirkungen lassen sich besser ertragen, wenn es die Hoffnung gibt, dass sie mit Komplementärmedizin in den Griff zu bekommen sind – wenn nicht mit der, die man gerade nimmt, dann vielleicht mit der, die man als nächstes probiert. Außerdem kann man immer daran glauben, dass es ohne die Mittel und Übungen noch schlimmer wäre.

Durch die fehlende Evidenz konnten Ärzt:innen bisher auf Nachfragen von Patient:innen nach bestimmten Mitteln oft nur ausweichend mit „Wenn es Ihnen guttut …“ oder „Sie können das ja mal ausprobieren“ reagieren. Das ist zwar nachvollziehbar, angesichts komplizierter Behandlungen, mannigfaltiger Nebenwirkungen und komplexer Wechselwirkungen allerdings ein schwieriger Ratschlag. Solche Empfehlungen setzen eher auf den Placebo-Effekt als auf tatsächliche Wirkungen. Hier ist ein zusätzliches selbstorganisiertes Ausprobieren möglicherweise kontraproduktiv – nicht nur angesichts der zusätzlichen Kosten in einer Zeit, die durch die Krankheit finanziell häufig ohnehin angespannt ist, sondern auch aufgrund des beträchtlichen Aufwands für die Patient:innen, die in vielen Fällen schon mit der Organisation ihres neuen Alltags überfordert sind.

„Schulmedizin“ vs. „Ganzheitlichkeit“

In der Öffentlichkeit geht es beim Thema Krebs häufig um die Gegenüberstellung von „Schulmedizin“ und „Alternativen Methoden“. Doch auch hier ist ein genauerer Blick gefragt: Reden wir nicht von „Schulmedizin“, sondern von anerkannter, evidenzbasierter oder auch konventioneller Medizin. Die in ihrer Wirkung erwiesenen Therapien können auch als Primärtherapien bezeichnet werden, zu denen es komplementäre (ergänzende) Therapien gibt. Diese bekämpfen nicht oder nur selten den Tumor direkt, sondern unterstützen und stärken den Körper, lindern die Nebenwirkungen und verbessern die Lebensqualität. Sie können mehr oder weniger wirkungsvoll sein, immer sollten Absprachen mit den behandelnden Ärzt:innen erfolgen, damit man nichts einnimmt, was die Wirkung der Primärtherapie gefährdet.

Die neue Leitlinie untersucht komplementäre und „alternative“ Methoden, leider ohne hinreichend deutlich zu machen, was was ist. Alternativ klingt zwar gut, und natürlich wäre es schön, wenn man Tumore „ganzheitlich“ mit richtiger Ernährung, sanften Pflanzenextrakten und Vitaminen beseitigen könnte. Leider funktionieren sie aber nicht, sodass immer wieder Menschen, die alleine diesen Mittelchen vertrauen, sie alternativ zu anerkannten Methoden anwenden, am Krebs sterben. Statt als Alternativmedizin sollten solche Mittel also besser als Scharlatanerie und der Hokuspokus bezeichnet werden. Diese Abgrenzung lässt die neue Leitlinie vermissen. Körperlich mag es nicht schaden, Zuckerkügelchen zu sich zu nehmen, dem Geldbeutel allerdings sehr wohl. Zudem sinkt auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Betroffenen Mittel einnehmen, die tatsächlich helfen könnten.

Der Deutsche Zentralverein homöopathischer Ärzte warb auf seiner Website ebenso wie der Bundesverband Patienten für Homöopathie auf Twitter damit, die neue Leitlinie habe der Homöopathie einen „Evidenz-Level 2b“ bescheinigt. Basierend auf dem „Instrument des Oxford Centre for Evidence-based Medicine“ ist das allerdings nur die viertbeste Kategorie, und anders als die Interessensvereine suggerieren, bezieht sich diese Bewertung auch nicht auf die gesamte Homöopathie, sondern vielmehr auf eine einzige Studie. 2b bezieht sich auf die Güte einer Studie von 2015 von Frass et al. zur Verbesserung der Lebensqualität bei onkologischen Patient:innen zusätzlich zur Tumortherapie, der Empfehlungsgrad hierbei ist null.

Während meiner Akuttherapie habe ich auf Empfehlung meiner Ärzt:innen zwei Mal homöopathische Mittel gekauft, ohne es wirklich zu wollen – das geht in der Brustkrebstherapie anscheinend schnell, wenn man sich nicht die Mühe macht, selbst zu recherchieren, was da empfohlen wurde.

Einfluss von Ernährung

„Krebs mag keine Himbeeren“, „der Tumor ernährt sich von Zucker“, „Fasten vor der Chemo hilft gegen Übelkeit“ – Ernährungstipps gibt es für Betroffene mehr als reichlich. Diese werden auch gerne ungefragt mitgeteilt. Ernährung gilt bei Krebskranken, vor allem unter Chemotherapie, die oft zu Übelkeit führt, als wichtiger Hebel, mit dem Betroffene ihre Situation verbessern können.

Evidenz haben viele dieser Tipps nur anekdotisch, manche sind so verkürzt, dass sie falsch sind. Als ich mit meiner Hausärztin über ein Blutbild und mögliche Vitaminunterversorgung sprach, erklärte sie mir, dass die Werte für einige Vitamine und Spurenelemente so nicht eindeutig zu bestimmen seien. Während man bei einigen Vitaminen unbedenklich auch mehr zu sich nehmen könnte, wäre es bei anderen eher kontraproduktiv, weil sie die Wirkung der Therapien untergraben. Außerdem „ernähren“ sich Tumorzellen keineswegs nur von „schlechten“ Lebensmitteln wie Zucker oder Alkohol, sondern nutzen auch gesunde Nahrung für ihr Wachstum. Der Aberglaube, eine „gesunde“ Ernährungsweise könnte Krebs vollständig vorbeugen oder bekämpfen, ist also nicht nur Quatsch, sondern auch gefährlich. Manche Ernährungsweisen versprechen, sie könnten Chemotherapie ersetzen. Manche Betroffene fragen sich, warum sie überhaupt an Krebs erkrankt sind, wenn sie doch stets auf eine gesunde Ernährung geachtet haben. Aber so funktioniert die Krankheit eben nicht. Sie ist kompliziert und anstrengend. Zwar sind viele Wirkungen und Nebenwirkungen noch unklar, eins muss man als Betroffene:r jedoch bedenken: Wenn es ein einfaches Versprechen auf Heilung ist, funktioniert es höchstwahrscheinlich nicht.