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Keine Verbote sind auch keine Lösung

Wie mit dem offenen Antisemitismus auf propalästinensischen Demonstrationen umgehen? Jedenfalls nicht, indem Linke das Problem kleinreden, Kommentar im nd vom 15.04.2023

Angesichts der rassistischen Ressentiments und Abschiebeforderungen, die sich in den Kommentaren auf Twitter und Youtube unter den Videos von der Berliner Demonstration in Solidarität mit palästinensischen Gefangenen am 8. April Bahn brechen, ist es ein verständlicher linker Impuls, sich dagegen zu stellen. Auch die Forderungen nach Verboten von Organisationen und Demonstrationen sowie nach einer Verschärfung des Versammlungsrechts lösen Misstrauen und einen bauchlinken Reflex der Solidarität gegen staatliche Repression aus.

Nun hat die Polizei zwei ähnliche für diesen Samstag in Berlin angemeldete Demonstrationen untersagt, da die unmittelbare Gefahr von volksverhetzenden, antisemitischen Ausrufen, Gewaltverherrlichung und Gewalttätigkeiten bestehe. Für im Stadtteil lebende Jüd*innen dürfte das eine Erleichterung sein, da es so ein bisschen weniger gebündelte Wut gibt, die sich eben nicht gegen die israelische Regierung, sondern auch gegen einzelne als jüdisch wahrgenommene Menschen richtet.

Verbote von menschenfeindlichen Aussagen und Aktionen sind also nicht immer schlecht, manchmal aber leider nutzlos. Und manchmal auch schädlich, vor allem, wenn sie juristisch schlecht abgesichert sind. Das ermöglicht die Selbstinszenierung als Opfer und verstärkt in Teilen der Linken ein Wir-gegen-die-Gefühl statt der Auseinandersetzung mit den problematischen Inhalten.

Nur weil Rechte und Ordnungspolitiker*innen den in der Palästina-Soliszene immer wieder überschwappenden Antisemitismus erneut als Vorwand nehmen, ihren Rassismus auszuleben oder Versammlungsgesetze verschärfen zu wollen, muss man das Problem nicht kleinreden. Denn dieses ist weit größer, als manche Linke wahrhaben wollen: Offen antisemitische und israelfeindliche Gruppen sind seit geraumer Zeit Teil linker Bündnisse, sei es zur Mobilisierung für den 1. Mai, bei »unteilbar«, dem internationalistischen CSD oder dem Gedenken an den rassistischen Anschlag in Hanau.

Wenn der Frontblock einer linksradikalen oder queeren Demo die eliminatorische Parole »From the River to the Sea, Palestine must be Free« ruft und das Tausende nicht zu stören scheint, gibt es offensichtlich ein erhebliches Missverständnis darüber, was emanzipatorische Forderungen sind. Im Namen eines falsch verstandenen Antirassismus drückt die linke Szene ein Auge zu.

Da all diese Gruppen und Bündnisse beteuern, sich gegen Antisemitismus einzusetzen, ist dieses Bekenntnis beinahe bedeutungslos geworden. Selbst die Gruppe »Samidoun«, die zu der umstrittenen Demonstration am vergangenen Samstag aufgerufen hat, erklärt in einer Stellungnahme, eine klare Haltung gegen Antisemitismus zu haben. Auf der Demonstration wurden in kaum verschlüsselter Form Anschläge auf die jüdische Zivilbevölkerung in Israel gefeiert, »Märtyrer« bejubelt und die Zerstörung Israels gefordert. Viele der »politischen Gefangenen«, mit denen die Demonstrierenden Solidarität zeigten, sitzen wegen terroristischen Attentaten im Gefängnis. Mit dem 1. Mai vor der Tür sollte die Linke klarkriegen, ob sie wirklich bereit ist, so viel »Israelkritik« in Kauf zu nehmen.