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Frauenrechte: „Gleichheit nutzt allen Geschlechtern“

Juristinnen bemängeln die Umsetzung der UN-Frauenrechtskonvention in Deutschland. In der Frankfurter Rundschau vom 20.12.19

Wie sähe das Land aus, wenn tatsächlich Geschlechtergerechtigkeit herrschte? Impulse für die Vorstellungskraft hat die 40. Geburtstagsfeier für das UN-Frauenrechtsabkommen am Mittwochabend in Berlin gesetzt. Zu der Veranstaltung hatten der Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien von Ulrike Lembke und die Kommission Europa- und Völkerrecht des Deutschen Juristinnenbundes (djb) in den prestigeträchtigen Senatssaal der Humboldt-Universität geladen. Der Tenor des Abends: Die Konvention ist gut und wichtig, besser wäre es allerdings, wenn sie auch konsequent angewendet würde und zwar auf allen Ebenen: von der Politik, den Behörden und auch von Gerichten.

Die Frauenrechtskonvention ist bekannter unter ihrem englischen Kürzel CEDAW, die Abkürzung steht für „Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women“. Das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau wurde am 18. Dezember 1979 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und trat am 9. August 1985 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft.

Die Konvention hält fest, dass Frauen die gleichen Menschenrechte wie Männer haben und die ratifizierenden Staaten verpflichtet sind, diese auch durchzusetzen. Unzureichender Schutz vor häuslicher Gewalt, Gender-Pay-Gap, ungleiche Verteilung der Sorgearbeit, Ehegattensplitting, der Paragraf 218, Operationen an intergeschlechtlichen Kleinkindern – all das dürfte es nicht geben, wenn die Konvention in Deutschland wirklich umgesetzt würde. Die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen ist nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch sicherzustellen, dabei soll die Konvention als Instrument dienen.

Eine dafür entscheidende Formulierung ist die Verpflichtung der Staaten zu „wirksamen Maßnahmen“ gegen die diskriminierenden Missstände. Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, hielt in ihrer Rede unter dem Titel „Die UN-Frauenrechtskonvention – Motor für Geschlechtergerechtigkeit in Deutschland“ fest, dass es eben nicht reiche, irgendwelche Maßnahmen zu ergreifen. Wenn freiwillige Selbstverpflichtungen offensichtlich unzureichend seien, müssten halt Quoten her. Die Quotendebatte in Deutschland kranke seit den 1980er Jahren daran, dass CEDAW nicht ernst genommen werde.

Rudolf betonte, dass Diskriminierung ein Machtmittel sei. Diese abzubauen werde also nicht von allen in gleicher Weise begrüßt: „Mittelmäßige Männer ahnen: Geschlechtergleichheit bedroht ihre Privilegien. Kluge Menschen wissen: Geschlechtergleichheit nutzt allen. Denn sie überwindet geschlechtsspezifische Verhaltenserwartungen und führt damit zu mehr Freiheit für alle Menschen.“ Eine diskriminierende Absicht sei nicht erforderlich, weil die Konvention sich gegen jedes Handeln und Unterlassen richtet, das sich benachteiligend auf Frauen auswirke.

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Eingeschränkte Solidarität – Feminismus zwischen Ableism und Intersektionalität

Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 2-2019, S. 40-53

Wenn heute Rückschau gehalten wird auf die Auseinandersetzungen über Pränataldiagnostik (PND) und Abtreibung zwischen der Behindertenbewegung und der Frauenbewegung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre, wird oft auf das extrem polarisierende Interview in der Zeitschrift konkret mit AktivistInnen beider Bewegungen verwiesen, das 1989 unter dem Titel „Krüppelschläge“ veröffentlicht wurde (Christoph et al. 1989).1 Meist wird dann von einem zerstörten Verhältnis und unüberbrückbaren Gegensätzen ausgegangen. Diese Bewertung geht von der impliziten Annahme aus, dass sich ganze Bewegungen miteinander solidarisch verhalten müssten. Für realistischer und produktiver halte ich es, Bewegungsströmungen auf ihre Potenziale zu bewegungsübergreifender, intersektionaler Solidarität zu befragen. Dies würde größere Möglichkeiten eröffnen, Bewegungen nicht als monolithisch, sondern als komplex, dynamisch und teilweise widersprüchlich begreifen zu können. Beim Ringen um bewegungsinterne Bedeutungsmacht kann die Ausweitung eines bestehenden Bewegungskonsenses allerdings als Aufkündigung der bisherigen bewegungsinternen Solidarität und somit als Verrat abgewehrt werden.

Im Folgenden werde ich schlaglichtartig die Frage untersuchen, wie Solidarität innerhalb und zwischen verschiedenen Bewegungen funktionieren kann. Dazu werde ich zunächst aus dem mannigfaltigen Gebrauch des Solidaritätsbegriffs eine Konzeptionalisierung entwickeln, die die zwischen Behinderten- und Frauenbewegung relevanten Aspekte von Solidarität begreifbar macht. Die Grundlage der anschließenden Analyse bildet ein Abriss der Bewegungsgeschichte beider Bewegungen. Auf dieser Basis werden im Mittelpunkt meines Beitrags vier Texte analysiert, die zwischen den beiden feministischen Kongressen gegen Reproduktionstechnologien ab Mitte der 1980er-Jahre entstanden sind. Diese eignen sich besonders, um exemplarisch unterschiedliche Herangehensweisen an Solidarität zu illustrieren. Dadurch soll die bisher unterbelichtete Dynamik zwischen verschiedenen randständigen Bewegungsströmungen beleuchtet und mit Blick auf die Möglichkeiten bewegungsübergreifender intersektionaler Solidarität diskutiert werden.

Welche Solidarität?

Der Begriff der Solidarität wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich verwendet, auch unter Soziolog*innen gibt es keine einheitliche Definition. Dies ist bei lange und in unterschiedlichen Kontexten verwendeten Containerbegriffen nicht ungewöhnlich. Eine umfassende Darstellung der unterschiedlichen soziologischen Konzepte hat Kurt Bayertz (1998) vorgelegt. Er unterscheidet vier Verwendungsweisen des Solidaritätsbegriffs: als allgemeine Brüderlichkeit, als Bindemittel der gesellschaftlichen Einheit, als Begründung für sozialstaatliche Leistungen und als Kampfbegriff sozialer Bewegungen, wobei er nur die beiden letzteren als nachvollziehbare Bedeutungsvarianten gelten lässt (ebd., 49). Solidarität als Kampfbegriff sozialer Bewegungen ist das für meine Untersuchung sinnvollste Konzept. Diese Solidarität zeichnet sich durch „die Bereitschaft eines Individuums oder einer Gruppe (aus), einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe bei der Durchsetzung seiner oder ihrer Rechte zu helfen“ (ebd.). Ähnliche Interessen reichen, Bayertz zufolge, als Motivation nicht aus (ebd., 45), vielmehr braucht es ein gemeinsames Anliegen, ein als gerecht wahrgenommenes Ziel. Welches Ziel einer Gruppe oder Bewegung jedoch als gerecht und dringlich erscheint, ist nicht von vorneherein festgelegt, sondern Resultat von Aushandlungsprozessen. Der Erfolg des Solidaritätsappells hängt dabei von der Bedeutung der thematisierten Werte und Solidaritätsziele in der internen Struktur des Wertesystems der Zielgruppe ab (Baringhorst 1998, 19). Diese Werte dürfen den Interessen der Adressat*innen nicht widersprechen, da sie sonst Abwehr statt Zustimmung auslösen. Die Abwehr eines bewegungsinternen Appells an die Solidarität geht häufig mit dem Vorwurf des Verrats an den eigentlichen Zielen und Werten einer Bewegung einher. mehr … Eingeschränkte Solidarität – Feminismus zwischen Ableism und Intersektionalität

Antifa versus Abgabenordnung

Das Berliner Finanzamt hat der »Vereinigung der Verfolgten des Nazi­regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« die Gemeinnützigkeit aberkannt. Mehr als 17 000 Menschen haben eine Petition gegen die Entscheidung des Finanzamts unterzeichnet. In der Jungle World 49/2019

Antifaschismus ist nicht gemeinnützig. Das meint zumindest das Berliner ­Finanzamt. Anfang vorigen Monats entzog die Behörde der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit. Der Verein machte dies am vorvergangenen Freitag öffentlich und erhielt daraufhin zahlreiche Solidaritätsbekundungen.

Dass die 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und anderen NS-Verfolgten gegründete Organisation keine der Allgemeinheit nützlichen Zwecke verfolgen soll, mag unvorstellbar erscheinen. Der Vorwurf, zu links zu sein, um als gemeinnützig gelten zu können, wurde allerdings schon häufiger gegen antifaschistische Vereine er­hoben. Erst Ende Oktober hatte das ­Finanzamt im baden-württembergischen Ludwigsburg dem dortigen ­»Demokratischen Zentrum – Verein für politische und kulturelle Bildung« ­(Demoz) die Gemeinnützigkeit ent­zogen, unter anderem weil Rechtsextreme nicht an Veranstaltungen des ­Zentrums teilnehmen dürfen (Jungle World 47/2019).

Den Status der Gemeinnützigkeit von Vereinen regelt die bundesweit geltende Abgabenordnung (AO), die allgemeine Vorschriften und grundsätzliche Regelungen zum Steuer- und Abgabenrecht enthält. Die AO gewährt gemeinnützigen Vereinen steurliche Privilegien und ermöglicht es, Spenden oder Mitgliedsbeiträge an solche Vereine steuerlich abzusetzen; auch die Zuwendungen mancher Träger sind an die Gemeinnützigkeit gekoppelt.

Gemäß Paragraph 52 der AO verfolgt eine Organisation gemeinnützige Zwecke, »wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern«. Nach Paragraph 51 der AO ist ein Verein zudem nur dann gemeinnützig, wenn seine Tätigkeit nicht verfassungswidrig ist und sich nicht gegen den »Gedanken der Völkerverständigung« richtet. In Absatz 3 des Paragraphen heißt es, »bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extre­mistische Organisation aufgeführt sind«, sei »widerlegbar davon auszugehen«, dass sie diese Voraussetzungen nicht erfüllten.

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Sie darf

Urteil zu sexueller Selbstbestimmung

Eine schwangere Teenagerin verklagt ihre Mutter: Sie will abtreiben, die Mutter ist dagegen. Ein Gericht entschied nun im Sinne der Schwangeren. In der taz vom 4.12.2019

Eine 16-Jährige wird schwanger, kann sich aber nicht vorstellen, ein Kind zu bekommen. Ihre Mutter, bei der sie wohnt, ist gegen einen Abbruch. Darf die junge Frau selbst entscheiden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen lässt? Muss sie ihre Eltern informieren und um Erlaubnis bitten? Müssen dann beide, Mutter und Vater, einverstanden sein? Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat diese Fragen Ende vergangener Woche zugunsten der jungen Frau entschieden. Ihr Anwalt, Oliver Tolmein von der Hamburger Kanzlei „Menschen und Rechte“, begrüßte das Urteil als „Ausdruck eines modernen Medizinrechts“.

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Behindertenbeauftragter verteilt Seitenhiebe

UN-Konvention schreibt klare Rechte fest, doch Rechtsruck, Sparzwang und Jens Spahn gefährden diese. Im Neuen Deutschland vom 03.12.2019

Erstmals hat der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung veröffentlicht. Anlass ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember sowie der zehnte Jahrestag des Inkrafttretens der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Deutschland. Zeit, den Stand der Inklusion genauer zu betrachten, findet Dusel.

Bei der Präsentation am Montag hielt er sich mit expliziter Kritik an der Regierung zurück, zwischen den Zeilen blitzte jedoch immer wieder deutlicher Ärger über die fehlende Umsetzung der UN-BRK und über mögliche Rückschritte auf. Auch ein Seitenhieb auf die AfD, die mit besonders behindertenfeindlichen Forderungen und Kleinen Anfragen auffällt, fehlte nicht. Ohne die extrem rechte Partei explizit zu nennen, warnte Dusel vor politischen Kräften, die jahrzehntelang sicher geglaubte demokratische Grundkonsens infrage stellen würden.

Mehr von dem Text ist leider nur für ND-Abonent*innen lesbar…

Analysieren und diskriminieren

Das »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens« erlaubt der Polizei, DNA-Spuren zu analysieren, um auf das Aussehen von Verdächtigen zu schließen. Kritiker befürchten, so werde Diskriminierung befördert. In der Jungle World 48

Von Blutspuren auf das Aussehen oder das Alter von Verdächtigen schließen: Was die Polizei bislang nur in Bayern durfte, wird künftig bundesweit erlaubt sein. Am vorvergangenen Freitag beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien ein »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens«. Die Grünen, die FDP und die Linkspartei stimmten dagegen, die AfD-Fraktion enthielt sich. 
Besonders kritisiert wird die Zulassung erweiterter DNA-Analysen. Mit deren Legalisierung folgt der Bundestag dem im Mai vorigen Jahres beschlossenen bayerischen Polizeigesetz, das für große Proteste sorgte (Jungle World 13/2018). Das neue Gesetz sieht vor, dass die Polizei aus Tatortspuren genetische Hinweise auf Augen- und Haarfarbe, Pigmentierung der Haut und das Alter von Verdächtigen gewinnen darf. Vor der Gesetzesänderung war dies nur für die Geschlechtszugehörigkeit erlaubt.

Der Verein »Gen-ethisches Netzwerk« hatte vor dem Beschluss des Bundestags kritisiert, dass die Technologie zur Vorhersage der Pigmentierung von Haut, Haaren und Augen keineswegs so ausgereift sei, wie Politiker und einige Wissenschaftler behaupteten. »Eine Fehlleitung von Ermittlungen aufgrund von zu großem Vertrauen in die DNA-Technologie erscheint demnach höchst wahrscheinlich«, heißt es in einer Pressemitteilung der Organisation. mehr

Beschleunigung heißt noch nicht mehr Opferschutz

Frauenverbände sehen Licht und Schatten im neuen »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens« in Deutschland, Neues Deutschland, 25.11.2019

Mit den Stimmen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD beschloss der Bundestag vor wenigen Tagen das »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens«. Bündnis 90/Die Grünen, FDP und die Linkspartei stimmten gegen das große Gesetzespaket, das auch die umstrittene Zulassung der Erweiterten DNA-Analyse enthält; die AfD-Fraktion enthielt sich. Im Bundesrat wird das Gesetz voraussichtlich am 29. November beschlossen.

Ein wichtiges Ziel des Gesetzes ist eine Beschleunigung von Strafverfahren. Dies wird vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) begrüßt, da die langen Zeiträume von einer Anzeige bis zur Rechtskraft eines Urteils gerade für Gewaltopfer sehr belastend sind. Opferzeugen wird oft davon abgeraten, vor Abschluss des Verfahrens eine Therapie zu beginnen, da sonst Gutachten die Glaubwürdigkeit anzweifeln könnten. Mehr ist hinter einer Aboschranke

Diese Menschen fürchten, alles zu verlieren, was ihnen wichtig ist

Eigentlich wollte Gesundheitsminister Jens Spahn die Situation von Beatmungspatienten verbessern. Jetzt könnte sein Gesetzentwurf dazu führen, dass viele Menschen mit schweren Behinderungen im Pflegeheim landen. Aber sie wissen sich zu wehren. 15. November 2019 auf Perspective Daily

Auch Menschen mit Behinderungen wollen ein selbstbestimmtes Leben führen. Die Behindertenbewegung hat seit den 80er-Jahren verschiedene Modelle entwickelt, damit Menschen mit Behinderung nicht ständig auf ihre Eltern oder Partner angewiesen sind oder im Heim leben müssen. Eines dieser Modelle ist die persönliche Assistenz. Mit Unterstützung durch Assistentinnen und Assistenten können auch Menschen, die einen hohen Pflegegrad haben, in ihren eigenen 4 Wänden wohnen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Mehr

Falsche Hilfe für Frauen

Gegen eine Beratungsstelle für Schwangere der „Lebensschutz“-Organisation Pro Femina regt sich Widerstand. Selbst die SPD fordert inzwischen die Schließung. In der taz vom 12.11.19, S. 23 Berlinteil

Pro Femina hat am 1. Juli in Berlin eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle eröffnet – und stellt keine Beratungsscheine für ungewollt Schwangere aus. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins, Kristijan Aufiero, bezeichnete diese bereits 2008 in einem Interview auf einer Pro-Femina-nahen Website als „Tötungslizenzen“. Diese Beratungsscheine brauchen Schwangere in Deutschland aber, um ungestraft abtreiben zu können. Pro Femina ist ein als gemeinnützig anerkannter Verein, der laut eigenen Angaben in diesem Jahr bereits 12.420 schwangere Frauen beraten hat, die meisten online oder telefonisch.

Die Delegierten des Berliner Landesparteitags der SPD haben diese Praxis am 26. Oktober verurteilt und die Schließung der Beratungsstelle gefordert. Daniela Döbler, die stellvertretende Landesvorsitzende der antragstellenden Jusos, spricht gegenüber der taz von einem „politischen Beschluss, der den Handlungsbedarf aufzeigen“ solle. Die von der Beratungsstelle betriebene „Irreführung von Schwangeren“ führe im schlimmsten Fall zu einer Überschreitung der gesetzlich vorgesehenen Frist von 12 Wochen, was den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft sehr erschwere.

Grundlage der Anträge ist eine Recherche des Onlineportals Buzzfeed vom vergangenen Dezember. Eine Reporterin hatte sich als schwanger ausgegeben und sich in den beiden bisherigen Beratungsstellen in München und Heidelberg beraten lassen. Die vorgeblich ungewollt Schwangere sei erst spät darüber informiert worden, dass Pro Femina keine Beratungsscheine ausstelle, konkrete Informationen über die von ihr gewünschte Abtreibung haben die Beraterinnen nicht vermittelt, stattdessen Hilfen angeboten für den Fall, dass sie das Kind doch bekomme. Buzzfeed wirft der „Lebensschutz“-Organisation daher Manipulation und Ausübung von moralischem Druck auf hilfesuchende Frauen vor. Staatlich anerkannte Beratungsstellen sind durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz verpflichtet, ergebnisoffen zu beraten. Das ist bei Pro Femina nicht der Fall. Der „Lebensschutz“-­Organisation geht es in erster Linie um die Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Auf der Website lässt sich die Zugehörigkeit zur „Lebens­schutz“-­Bewegung nur mit Expertenwissen erahnen, etwas deutlicher wird sie auf der Kampagnenwebsite der Organisation „1000plus“. Hier finden sich die Jahresberichte des Vereins und die Verbindung zur Stiftung „Ja zum Leben“ und zur europäischen Vernetzung von „Lebensschutz“-Initiativen, „One of Us“.

Von der Website von Pro Femina führt aber keine Verbindung zu 1000plus – hier ist alles auf die hilfesuchende Schwangere fokussiert. Auf eine Anfrage der taz antwortete der Vorstandsvorsitzende des Vereins nur mit Gegenfragen. Er schreibt: „Leider machen wir mit Journalisten aus dem linksextremen Lager immer wieder die gleiche Erfahrung: Sie schrei­ben, was sie wollen – ganz unabhängig davon, was stimmt und was nicht, und ganz gleich, ob wir auf Fragen antworten oder nicht.“ Dem Onlineportal Buzzfeed wirft Aufiero auf der Website von 1000plus „gezielte Desinformation“ vor. Eine Unterlassungsaufforderung bezüglich Aussagen des beinahe ein Jahr alten Artikels habe es jedoch nicht gegeben, erklärt die Autorin des Artikels und Buzzfeedredakteurin, Juliane Löffler, auf Anfrage.

Aufiero sieht sich und seine Arbeit zu Unrecht angegriffen und zunehmend unter Druck. Eine Sachbeschädigung im Treppenhaus der Beratungsstelle, zu der es Anfang Oktober eine Erklärung auf dem linken Bewegungsportal indymedia gab, stilisieren er und rechte Medien zu einem „Anschlag“ hoch. Der Beschluss des SPD-Landesparteitages ist für ihn ein „2. Anschlag“ auf die Beratungsstelle; entsprechend dieser Wahrnehmung warnt er vor „dem neuen Linksextremismus“.

Auf der Website von Pro Femina findet sich mittlerweile unter der Rubrik „Unsere Arbeit“ der Hinweis, dass Pro Femina „NICHT Teil des staatlichen Beratungssystems“ ist und keine Beratungsscheine ausstellt. Dieser Hinweis existierte mindestens bis kurz vor der Veröf­fentlichung der Buzzfeed-Recherchen im Dezember 2018 nicht. Für die Feministin ­Döbler ist dieser Hinweis nicht ausreichend, er müsse mindestens „prominent auf der Startseite“ zu finden sein, ohne dass man sich bis zu der entsprechenden Seite durchklicken muss.

Die Beratungsstelle in Berlin ist für Döbler vor allem ein Symptom dessen, dass Abtreibungsgegner die aktuelle Gesetzeslage nutzen, um ihre Agenda durchzusetzen. Der Zwang zur Beratung werde missbraucht, um mit ungewollt Schwan­geren in Kontakt zu kommen. Auf das Pro­blem des Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen weist auch Lisa Müller vom queerfemi­nistischen Bündnis What the Fuck hin. Das Bündnis hatte schon am 1. August eine Kundgebung vor der Beratungsstelle durchgeführt und deren Schließung gefordert. Müller geht davon aus, dass das umstrittene „Werbeverbot“ in Paragraf 219a dazu führt, dass suchmaschinenoptimierte Websites wie die von Pro Femina leichter gefunden würden, da Ärztinnen sehr vorsichtig sein und überlegen müssten, welche Informationen sie auf welche Weise online stellen.

Die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Lena Högemann, antwortete auf die Anfrage der taz nach einer Reaktion auf den konsensualen Parteitagsbeschluss, Debatten innerhalb der SPD könne die Senatsverwaltung nicht kommentieren. Aktuell werde aber „keine Möglichkeit einer Prüfung oder eines Vorgehens gegen die Beratungsstelle Pro Femina gesehen“. Berlin werde das Thema allerdings beim nächsten Koordinierungskreis zwischen Bund und Ländern einbringen, um auf dieser Ebene eine juristische Prüfung vornehmen zu lassen. Ein „Vorgehen ­gegen Beratungsstellen, die möglicherweise unseriös arbeiten“, sei „juristisch sehr komplex“. Über die Ergebnisse des Treffens, das am 5. und 6. November in Köln stattfand, war bis Redaktionsschluss noch nichts bekannt.

„Man kann niemanden dazu zwingen, ein Kind zu bekommen“

Kirsten Achtelik kritisiert die Idee, Menschenrechte auf Föten auszudehnen. Was das Thema Abbruch bei Behinderung betrifft, müssten Feministinnen aber genauer hinsehen. Interview Vanessa Gaigg Der.Standard, 12. Oktober 2019

STANDARD: Die Organisatoren vom Marsch fürs Leben fordern etwa: „Jeder Mensch, ganz gleich wie alt oder jung, groß oder klein, stark oder schwach, hat dasselbe Recht auf Leben.“ Da kann man nicht unbedingt widersprechen, oder?

Kirsten Achtelik: Dahinter steckt die Ansicht, dass bereits beim Verschmelzen von Ei- und Samenzelle ein Mensch entstanden sei. Die Bewegung versucht so, die herkömmliche Idee der Menschenrechte auf Föten auszudehnen. So werden zwei vermeintliche Akteure gegeneinander ausgespielt, das „ungeborene Leben“ und die schwangere Person. Allein mit ihrem Namen versuchen die sogenannten Lebensschützer sich als die moralisch korrekte Bewegung darzustellen. Denn wer kann schon was dagegen haben, wenn man für das Leben ist? Sie versuchen ein Spektrum zu besetzen, in dem man gar nicht widersprechen kann.

STANDARD: Sind sie damit erfolgreich?

Achtelik: Teilweise. Der Sprachgebrauch ist relativ weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Auch Mainstream-Zeitungen oder Hebammen sprechen von „ungeborenem Leben“ – ohne zu reflektieren, dass es sich dabei um keine neutrale Sprache handelt. Die Debatte über Leben ist aber auch eine, die durch technische Fortschritte befeuert wurde: Wenn man in den Körper der Schwangeren reinschauen kann, niedliche Bilder und 3D-Ausdrucke produziert werden, dann verschwimmt das Baby mit dem Fötus in der allgemeinen Wahrnehmung. Aber der Erfolg der sogenannten Lebensschützer hat natürlich Grenzen, da es sich um eine christlich-fundamentalistische Bewegung handelt und nicht alle Projekte mehrheitsfähig sind.

STANDARD: Ist es wirklich gerechtfertigt, von Fundamentalisten zu sprechen?

Achtelik: Es ist eine religiöse, keine rein politische Bewegung. Und in ihrer Religiosität ist sie sehr konservativ und beruft sich auf eine Auslegung der Bibel, die als fundamentalistisch definiert werden kann: Sie geht von einem Bild von heterosexuellen Männern und Frauen aus, die sich in der Ehe zum Zweck des Kinderkriegens verpartnern. Alle anderen Begehren und Formen des Zusammenlebens werden ausgegrenzt. Es gibt Vernetzungen zu Initiativen gegen die Ehe für alle oder zu sogenannten Homoheilern. Das Kerngeschäft ist aber tatsächlich der Schutz des Lebens von Anfang bis Ende. Also auch Sterbehilfe wird stark kritisiert und als Euthanasie bezeichnet.

STANDARD: Immer wieder tauchen auf Demonstrationen auch Plakate mit Begriffen wie „Babycaust“ auf. Hat die Gleichsetzung mit NS-Begrifflichkeiten dort Tradition?

Achtelik: Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal der sogenannten Lebensschützer. Gleichsetzungen wie diese nehmen allgemein zu. Was Dinge wie den „Babycaust“ betrifft: Da fahren verschiedene Strömungen verschiedene Strategien. Die einen versuchen, Frauen als zweites Opfer einer Abtreibung zu stilisieren – dafür wurde etwa das „Post-Abortion-Syndrom“ erfunden. Die anderen versuchen die totale Skandalisierung und setzen Abtreibung nicht nur mit Mord, sondern auch mit Genozid gleich. Da sind nicht nur die Ärzte, sondern auch die Frauen Mörderinnen. Und in dieser extremen Gedankenwelt ergibt das auch Sinn: Glaubt man wirklich, dass bei jeder Abtreibung ein Baby ermordet wird, dann kommt man tatsächlich zum Schluss, dass es mehr Opfer gibt, als der Holocaust gefordert hat. Die Leugnung der Singularität des Holocaust und der organisierten Vernichtung wird dabei zumindest in Kauf genommen.

STANDARD: Die Bewegung gibt sich auch als Anwalt von Behinderten, wenn sie beispielsweise gegen die Möglichkeit von Spätabbrüchen bei bestimmten Diagnosen mobilmacht, wie etwa die österreichische Initiative Fairändern. Treffen sie hier auf eine Leerstelle des Feminismus?

Achtelik: Hier wird versucht, die Fristenregelung über die Hintertür anzugreifen. Aber nicht alle Kritikpunkte sind an den Haaren herbeigezogen: Es ist leicht, sich als Vertreter der „Schwächsten der Schwachen“, wie Föten mit Behinderung von der Bewegung gerne genannt werden, hinzustellen, wenn es ein gesamtgesellschaftliches Tabu bei dem Thema gibt. Es ist tatsächlich ein Problem, wenn Feministinnen sich hauptsächlich auf Selbstbestimmung und „Mein Bauch gehört mir“ berufen, ohne genauer hinzusehen. Nämlich wie es sich damit verhält, wenn man sich schon dazu entschlossen hat, ein Kind zu bekommen – und nach einer Diagnose dann die Meinung kippt. Das ist auch psychologisch schwieriger, denn dann wird aus einem gewollten ein ungewolltes werdendes Kind.

STANDARD: Aber wie kann man beide Interessen zusammenbringen?

Achtelik: Indem man deutlich macht, dass die pränatale Suche nach Behinderung problematisch und ein gesellschaftliches Problem ist. Wir müssen darüber diskutieren, warum diese Tests gemacht werden und warum es gesellschaftlich so schwierig gemacht wird, ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Gleichzeitig muss man als Feministin aber immer sagen, dass die letzte Entscheidung bei der Frau liegen muss. Man kann niemanden dazu zwingen, ein Kind zu bekommen.