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Bluttest auf Trisomien ist kein Test gegen die Angst

Der Gemeinsame Bundesausschuss wird wohl beschließen, dass die Kosten für Bluttests auf Trisomien bei bestimmten Schwangeren übernommen werden. Eine Analyse. Frankfurter Rundschau, 18.09.19

Am Donnerstag (19.9.) wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über die Kassenzulassung des Bluttests auf die Trisomien 13, 18 und 21 entscheiden. Nach einem Vorbericht des Magazins „Der Spiegel“ ist die Entscheidung des obersten Selbstverwaltungs-Gremiums im deutschen Gesundheitswesen bereits gefallen: Die Kosten für die Tests sollen für Schwangere bei besonderen Risiken oder zur Abklärung von Auffälligkeiten übernommen werden.

Die nichtinvasiven molekulargenetischen Tests (NIPT) werden seit 2012 auf dem deutschen Markt angeboten. Sie filtern die DNA des Fötus – oder genauer, der Plazenta – aus dem Blut der Schwangeren und können darin einige genetische Abweichungen finden, die Beeinträchtigungen verursachen. Sie stellen keine Diagnostik dar, sondern sind Hochrechnungen. Sie ersetzen also nicht die invasiven und mit einem Fehlgeburtsrisiko verbundenen Verfahren wie Fruchtwasseruntersuchungen, diese sollen zur Bestätigung bei einem positiven Ergebnis weiterhin durchgeführt werden.

Bluttest auf Trisomie – Schritt zu sozialer Gerechtigkeit

Befürworter der Kassenzulassung begrüßen die Entscheidung als Schritt zu mehr Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit, da sonst ärmere Schwangere auf die invasiven Methoden zurückgreifen müssen. Selbst die Evangelische Kirche sprach sich für die Zulassung aus. Derweilen wächst die Kritik auf verschiedenen Ebenen. Grundsätzlich wird die Kompetenz und Zuständigkeit des G-BA für diese Entscheidung in Frage gestellt. Die Aufgabe des Gremiums ist es, den Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Medikamenten und medizinischen Verfahren zu bewerten, ethische und gesellschaftliche Gesichtspunkte spielen keine Rolle.

Der Vorsitzende Josef Hecken, hat selbst wiederholt betont, dass dieses Vorgehen in Bezug auf den NIPT schwierig sei und auf den Bundestag und den Ethikrat als für weitergehende Fragen zuständige Instanzen verwiesen. Der Bundestag hat mit einer zweistündigen Orientierungsdebatte im April einen Prozess begonnen, ob und wann dieser zu einer Änderung der den G-BA betreffenden Regelungen führen wird, ist jedoch offen.

Bluttest auf Trisomie – Kritiker fürchten Selektion

Die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen erfolgt auf Grundlage von Sozialgesetzbuch V, in dem festgelegt ist, dass die vergüteten Leistungen dazu dienen sollen „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern“. Akteure wie das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik bezweifeln, dass die Bluttests diesen Kriterien gerecht werden, da eine Beeinträchtigung des Fötus die Gesundheit der werdenden Mutter nicht gefährdet.

Diese Sichtweise stellt allerdings nicht nur die Kassenfinanzierung der Bluttests, sondern auch große Teile der bisherigen Finanzierungspraxis pränataler Tests in Frage – auch die meisten Fruchtwasser- und Ultraschalluntersuchungen suchen nach Auffälligkeiten beim Fötus, die für die werdende Mutter nicht gesundheitsrelevant sind.

Die Angst der Schwangeren vor einer möglichen Behinderung des Kindes

In der Schwangerschaft gelten nicht nur Auffälligkeiten als Indikation für weitere kassenfinanzierte Untersuchungen, sondern auch die Angst der Schwangeren vor einer möglichen Behinderung. Die Idee, dass diese Sorgen durch Tests und Untersuchungen abgebaut werden können und sollen, hat seit den 1980er Jahren zu einer enormen Normalisierung und Ausweitung pränataler Diagnostik geführt. Ob diese Ängste seitdem nicht eher zu- als abgenommen haben, ist eine empirisch offene Frage.

Die Angst vor einer Behinderung des werdenden Kindes und die Sorge darum, was dies auch für das eigene Leben bedeuten könnte, ist zudem kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. In der Debatte des Bundestages haben viele Abgeordnete darauf hingewiesen, dass Schwangere zu Recht Angst vor einem Kind mit Behinderung hätten: Die deutsche Gesellschaft sei immer noch wenig inklusiv und die Verantwortung für ein solches Kind daher mit einem stark erhöhten bürokratischen und finanziellen Aufwand verbunden.

Familien mit Kindern, die Trisomie 21 haben, sind in Sorge

Familien mit Kindern, die das Down-Syndrom haben, kennen diese Erfahrung aus erster Hand. Viele von ihnen lehnen die Kassenzulassung ab, weil sie befürchten, dass durch eine weitere Normalisierung pränataler Diagnostik die Angst vor Behinderung verstärkt werden könnte. Dieser Sorge verliehen sie auf einer vom Elternverein Downsyndromberlin am vergangenen Sonntag organisierten Kundgebung Ausdruck.

Für die Vorstandsvorsitzende Heike Meyer-Rotsch besteht das gesellschaftliche Drama nicht in der Behinderung, sondern in einem falschen Bild von Leid und schwerem Schicksal, das die meisten Menschen und werdende Eltern mit Behinderung verbänden. Durch die Kassenzulassung der Tests werde gerade Trisomie 21 als „nicht wünschenswert“ dargestellt und die Angst vor dieser Behinderung als sinnvoll und normal bewertet. Natalie Dedreux, die mit Trisomie 21 lebt und eine Petition auf Change.org gegen die Kassenzulassung gestartet hat, sagte auf der Kundgebung, dass sie nicht in einer Welt leben wolle, in der man sich wegen der genetischen Besonderheit Down-Syndrom Sorgen machen müsse.

Bluttests auf Trisomie: Gesetzgeber muss Impulse aufnehmen

Wenn der G-BA die Tests trotz dieser Bedenken zur Kassenleistungen macht, ist es am Gesetzgeber, die Impulse aus der Orientierungsdebatte aufzunehmen. Dazu gehört eine Überprüfung der Entscheidungskompetenzen des G-BA, aber auch die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Menschen mit Behinderung gut leben können und Schwangere nicht wissen, warum sie davor Angst haben sollten.

Kirsten Achtelik ist Sozialwissenschaftlerin und freie Journalistin

„Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser“

Interview mit dem Autor und langjährigen Redakteur der »Krüppelzeitung«, Udo Sierck, über Bevormundung und Gewalt in der Behindertenhilfe und deutsche Exklusionsgelüste in konkret literatur 44

literatur konkret: In den letzten Jahren sind vermehrt Fälle von teilweise sehr brutalen Misshandlungen an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe bekanntgeworden. In Ihrem neuen Buch Macht und Gewalt zeigen Sie, dass das keineswegs Einzelfälle sind, sondern aus der inneren Logik der Einrichtungen selbst zu erklären ist. Können Sie das erläutern?

Udo Sierck: Der UN-Ausschuss, der die Umsetzung der international verpflichtenden Behindertenrechtskonvention prüft, hat Deutschland 2016 wegen mangelnder Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor Gewalt gerügt. Die Kritik zielt auf mehr als das Netz der Institutionen, Behörden, Ämter. Im Fokus sind auch Alltagssituationen der Unterstützung. Gewalt gegen behinderte Menschen äußert sich in gesellschaftlichen Verhältnissen, in institutionellen Vorgaben und Zwängen sowie in individuellen Motiven und Handlungen. Beteiligt sind Fachleute aus Medizin, Pädagogik, Psychologie oder sozialer Arbeit. Zum Thema Macht und Gewalt gehören Sprache, Blicke, Normvorstellungen, Denkmuster und Haltungen. Diese Zusammenhänge beinhalten insbesondere für Menschen mit Einschränkungen, die in Institutionen zu fremdbestimmten Objekten erniedrigt werden, die Gefahr von Übergriffen. Die gegenwärtig beliebte Floskel »Wir agieren auf Augenhöhe« entlarvt sich bei genauer Betrachtung als Verschleierung herkömmlicher Machtverhältnisse.

Sie sagen, dass die heutige Struktur der Behindertenhilfe mit wirklicher Inklusion nicht vereinbar ist. Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich in Werkstätten in entsprechenden Räten selbst vertreten, reagierten dagegen 2018 empört auf eine Kritik der Vereinten Nationen an den segregierten Räumen für behinderte Personen. Liegen hier unterschiedliche Inklusionsdefinitionen vor, oder ist das ein tiefergehender Dissens?

Viele der Frauen und Männer, die in den Werkstätten arbeiten, werden morgens mit einem Sonderfahrdienst aus der Sonderwohneinrichtung zum Sonderarbeitsplatz gefahren, wo sie diverses Sonderpersonal besonders behandelt. Nachmittags fährt der Sonderfahrdienst sie wieder zurück in die Sonderwohneinrichtung, wo sie das Sonderpersonal empfängt. Die Träger dieser Einrichtungen verkaufen dieses geschlossene System der Aussonderung als inklusiven Akt der Fürsorge. Viele der zur Dankbarkeit erzogenen, als behindert geltenden Personen beugen sich diesen Machtverhältnissen aus Furcht davor, sonst ins soziale Nichts zu fallen. Hinzu kommt, dass sie sich nichts anderes als ihre Sonderlaufbahn vorstellen können, weil ihnen niemand eine gegenteilige Perspektive eröffnet hat. Gleichzeitig müssen manche pflegeabhängigen Personen den aufwendigen Weg der Klage gegen Sozialämter beschreiten, um der Heimeinweisung gegen ihren Willen zu begegnen. Mit Autonomie und Teilhabe hat das nichts zu tun.

Nimmt eine ablehnende Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen eher zu oder ab?

Wer in Beruf oder Sport gesellschaftlich anerkannte Werte erfüllt, kann mit Varianten der Inklusion rechnen. Andererseits besteht in der Gesellschaft unausgesprochen ein Zwang zur Nichtbehinderung, der die ausgemachten Merkmalsträger auf die »andere Seite« befördert. So hat die Diskriminierung von Menschen mit Schizophrenie in den letzten Jahren zugenommen. Das Ergebnis: weniger ehrliches Mitleid, weniger Hilfsbereitschaft, dafür der Wunsch nach sozialer Distanz. Nach einer aktuellen wissenschaftlichen Studie zu sozialdarwinistischen Einstellungen und Denkmustern lehnten nur 45 Prozent der repräsentativ Befragten die Vorgabe »Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen« völlig ab, nur 61 Prozent fanden die Aussage »Es gibt wertvolles und unwertes Leben« grundlegend falsch.

Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?

Offensichtlich nehmen die Ausschlussideen schleichend zu, wenn die Bevölkerung mit eigenen Existenzängsten beschäftigt ist. Große Aufklärungskampagnen bewirken offenbar wenig, solange das direkte Gegenüber fehlt. Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser, sie sagen jetzt, was sie denken. So monierte der saarländische AfD-Fraktionsvorsitzende Josef Dörr, dass man in Krankenhäusern Patienten mit ansteckenden und mit nichtansteckenden Krankheiten in unterschiedliche Abteilungen stecke, aber »in deutschen Schulen säßen Kinder mit Down-Syndrom«.

Was müsste passieren, um sowohl die eigentlich offensichtliche, aber in den Einrichtungen versteckte als auch die subtile Gewalt, die Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren, zu beenden?

In den Bereichen Arbeit, Wohnen oder Freizeit weisen die deutschen Verhältnisse auf Exklusion. Dies zu benennen, statt in Sonntagsreden auf Harmonie und Selbstgefälligkeit zu setzen, wäre ein Anfang. Die Behindertenpolitik braucht, pragmatisch formuliert, grundsätzlich eine Neuausrichtung: weg von stationären Institutionen und behütender Fürsorge. Notwendig ist eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse, warum es in Einrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder zu Übergriffen kommt, verbunden mit der unbürokratischen Entschädigung derjenigen, die sie erleiden mussten – unabhängig von Verjährungsfristen und vom Zeitpunkt der Gewalterfahrung. Allgemein gesagt: Solange »die Behinderten« als die Anderen« identifiziert werden, sind individuelle und gesellschaftliche Macht- und Gewaltpotentiale nicht aufgelöst.

Interview: Kirsten Achtelik

Samstags für die Zukunft

»Lebensschützer« borgen sich ihre Slogans gern von anderen Bewegungen. Das ließ sich auch auf dem diesjährigen »Marsch für das Leben« beobachten. In der Jungle World 39/2019.

Großen Einfallsreichtum legen die Veranstalter des »Marschs für das Leben« nicht an den Tag. Statt eigene Slogans zu formulieren, bedienen sich die sogenannten Lebensschützer lieber anderswo und versuchen, Parolen für ihre Zwecke abzuwandeln. Im Zuge der Welle der Solidarität mit Flüchtlingen ab 2015 waren sie mit dem Spruch »Willkommenskultur auch für Ungeborene« angetreten. In diesem Jahr hatte Alexandra Linder, die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht (BVL), der den »Marsch für das Leben« in Berlin organisiert, einen »Saturday for Future« ausgerufen, in Anlehnung an »Fridays for Future«.

Während die Bewegung für den Klimaschutz am Freitag nach Polizeiangaben mehr als 100 000 Menschen in Berlin auf die Straßen gebracht hat, blieb die Teilnehmerzahl tags darauf beim christlich-fundamentalistischen Schweigemarsch der Polizei zufolge »bei ungefähr 2 700«. Die »Lebensschützer« hatten ihre eigene Zählweise: Hieß es auf der Auftaktkundgebung noch, die Teilnehmerzahl liege »im fünfstelligen Bereich«, verkündete Linder zum Schluss, es seien 8 000 Menschen gewesen – »so viele wie noch nie«. Die tatsächliche Zahl dürfte bei ungefähr 5 000 gelegen haben. Damit ist der Marsch im Vergleich zu der Stag­nation der Vorjahre deutlich gewachsen.

Viele Teilnehmer trugen Plakate im typischen Grün des BVL mit Sprüchen wie »Keine Kinder, keine Zukunft«. Die Organisation achtet auf ihre Außenwirkung, selbstgemachte Schilder werden häufig einkassiert. Ein Jugendlicher, der ein T-Shirt der Nachwuchsorganisation »Jugend für das Leben« trug, hatte Glück und durfte auf einem selbstgemachten Schild den Spruch zeigen: »Zählt nur die Zukunft von Kindern, die freitags nicht zur Schule gehen?«Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) des Gesundheitswesens hatte am Donnerstag voriger Woche beschlossen, dass Krankenkassen Schwangeren künftig den Bluttest auf die Trisomien 13, 18 und 21 bezahlen. Die Entscheidung wurde auch von feministischer, behindertenpolitischer und medizinischer Seite scharf kritisiert: Die Tests haben keinen gesundheitlichen Nutzen für die Schwangere oder das werdende Kind; daher wird befürchtet, der Druck auf Schwangere, Föten mit Trisomie abzutreiben, könne sich erhöhen und das gesellschaftlich negative Bild von Behinderung als »unnötigem Leiden« sich verfestigen.

Auch hier zeigten die »Lebensschützer« ihren Hang, Slogans zu übernehmen, und liefen mit einem der Behindertenbewegung auf: »Inklusion statt Selektion«. Allerdings wollten die Urheber der Parole damit zum Ausdruck bringen, dass ein gut ausgebautes Gesundheits- und Sozialsystem wichtig ist, damit sich werdende Eltern ohne Angst vor dem sozialen Abstieg für Kinder mit Behinderungen entscheiden können. Die christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner benutzen hingegen diese Debatte, um ihr Kernanliegen zu befördern: die Gleichstellung von Föten mit geborenen Menschen. Ihr Ziel ist es, Antidiskriminierungsvorschriften und Menschenrechte auf Föten auszudehnen, was auch der Slogan »Inklusion auch für Ungeborene« ausdrückt. Mehr

Ab ins Heim

Menschen, die künstlich beatmet werden, könnten bald gegen ihren Willen in Heimen landen. Die Betroffenen organisieren den Widerstand. In der Jungle World 35/2019.

Bei Beatmung ab ins Heim – das jedenfalls befürchten viele als Folge des neuen Reha- und Intensivpflegestärkungsgesetz (RISG), dessen Entwurf das Bundesgesundheitsministerium kürzlich vorgestellt hat.

Nach Darstellung des Ministeriums sollen durch das Gesetz Intensivpflegebedürftige besser versorgt und Abrechnungsbetrug verhindert werden. Notwendig seien die Maßnahmen, weil die Zahl der Menschen mit hohem pflegerischen Bedarf, die zu Hause versorgt werden, auch dank des technischen Fortschritts stark gestiegen sei. Es sei jedoch auch von Fehlversorgung sowie von Fehlanreizen auszugehen. Vor einer Entlassung aus dem Krankenhaus würden die Patienten von der Beatmung oft nicht ausreichend entwöhnt, was die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtige. Erhebliche Unterschiede in der Vergütung im ambulanten und im stationären Bereich führten zu Fehlanreizen, heißt es in der Gesetzesbegründung. Im Mai hatte die Polizei einen Abrechnungsbetrug von Pflegediensten bei der Betreuung von Beatmungspatienten in mehreren Bundesländern aufgedeckt.

Die geschilderten Probleme versucht der für seinen Aktionismus bekannte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nun offenbar auf die harte Tour zu lösen. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass alle volljährigen Menschen mit intensivem Pflege- und Beatmungsbedarf in vollstationären Pflegeeinrichtungen, Heimen und speziellen Wohneinrichtungen versorgt werden sollen. Nur wenn das nicht möglich oder nicht zumutbar ist, könnten die Pflegebedürftigen in ihrer heimischen Wohnung bleiben. Ob die Zumutbarkeitsgrenze überschritten ist, soll individuell anhand der persönlichen und familiären Umstände sowie der örtlichen Gegebenheiten geprüft werden. Für sogenannte Altfälle soll es eine Übergangsfrist von drei Jahren geben. mehr

Rezension: Mietmutterschaft. Eine Menschenrechtsverletzung.

Die verdienstvolle und langjährige Aktivistin gegen Reproduktionstechnologien, Renate Klein, hat ein wütendes Buch gegen die Praxis der „Leihmutterschaft“ geschrieben. Die in Australien lebende Schweizerin ist ein Urgestein der Frauengesundheitsbewegung, schon auf dem ersten Kongress gegen Gen- und Reproduktionstechnik, der 1985 in Bonn stattfand, hatte sie eine Rede zum internationalen Frauenwiderstand gehalten. Daher ist es umso bedauerlicher, dass dieses Buch die in Deutschland dringend nötige Debatte um reproduktive Rechte und Gerechtigkeit vermutlich nicht weiterbringen wird. Dafür ist die Autorin zu eskalativ in ihrer Wortwahl – unter Katastrophe, Menschenrechtsverletzung, reproduktive Sklaverei geht es nicht –, aber zu unsorgfältig und beliebig in ihren Argumenten und Belegen. Die Praxis der Mietmutterschaft erscheint ihr so problematisch, dass ihre Bekämpfung die Zusammenarbeit mit Abtreibungsgegner*innen rechtfertigt – die Ermöglichung feministischer und frauengesundheitspolitischer Kollaborationen sähe dagegen anders aus. Bei einem Anknüpfen an neuere feministische Debatten steht Klein wohl auch ihr gegen Sexarbeit und Trans*geschlechtlichkeit gerichteter Feminismus im Weg, was die Rezensentin aufrichtig bedauert, aber politisch deswegen nicht weniger fragwürdig findet. Im GID 250.

Renate Klein (2018): Mietmutterschaft. Eine Menschenrechtsverletzung. Hamburg: Marta Press. 228 Seiten, 26 Euro, ISBN: 978-3-944442-17-4.

Lobby für Liberalisierung

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat Anfang Juni 2019 die Stellungnahme „Fortpflanzungsmedizin in Deutschland – für eine zeitgemäße Gesetzgebung“ veröffentlicht, in der ein neues, sehr liberales Fortpflanzungsmedizinrecht gefordert wird. Im GID 250.

Nach dem im März 2017 veröffentlichten Diskussionspapier „Ethische und rechtliche Beurteilung des genome editing in der Forschung an humanen Zellen“ versucht die Leopoldina mit der jetzigen Stellungnahme erneut die Axt an das Embryonenschutzgesetz zu legen. Auf einer Abendveranstaltung in Berlin wurde Anfang Juni das Ergebnis einer siebenjährigen Arbeitszeit vorgestellt und mit Politiker*innen diskutiert.

Der Medizinrechtler Jochen Taupitz hielt als Sprecher der Arbeitsgruppe den Eröffnungsvortrag, mit dem er ein Bild von dringendem Handlungsbedarf zeichnete, die Gefahren der Techniken kleinredete und die Probleme der jetzigen legalen Praxis dramatisierte. Zudem erzeugte er mit der präpotenten Aussage, mit der Stellungnahme eine Schwangerschaft im Parlament „anstoßen“ zu wollen, die vermutlich mit der „Geburt“ eines liberalen Fortpflanzungsmedizingesetzes enden soll, recht unangenehme Bilder in den Köpfen zumindest einiger Zuhörer*innen. Große Teile des Publikums, das sich hauptsächlich aus Angestellten von Fruchtbarkeitskliniken und Reproduktions-­Forscher*innen zusammenzusetzen schien, konnte diesem Drängen jedoch deutlich etwas abgewinnen.

Wissenschaftsakademie als Lobbygruppe

Die 1652 gegründete Leopoldina versteht sich als „klassische Gelehrtengesellschaft“, die zu einer „wissenschaftlich aufgeklärten Gesellschaft und einer verantwortungsvollen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Wohle von Mensch und Natur“ beiträgt. In ihrem Leitbild heißt es weiter, dass die Akademie „in der wissenschaftlichen Kommunikation und Politikberatung“ Themen setzen und „fachkompetent, unabhängig, transparent und vorausschauend Empfehlungen“ vorlegen würde.4 Die Stellungnahme zur Fortpflanzungsmedizin macht sehr deutlich, dass die Arbeitsgruppe hier ein Thema als relevant und dringend bearbeitungsbedürftig setzen möchte, an der Ausgewogenheit der Expertise und einer reflektierten Mischung verschiedener relevanter Fachkompetenzen kommen jedoch Zweifel auf. Die Stellungnahme liest sich wie ein „Wünsch dir was“ von Fruchtbarkeitskliniken und Reproduktionsmediziner*innen. Immerhin drei Personen der 20-köpfigen Arbeitsgruppe arbeiten denn auch in leitender Position in Kinderwunschzentren. Eher kritische Geister wie die feministische Philosophin Susanne Lettow waren dagegen schon vor Jahren aus der Arbeitsgruppe ausgeschieden.

Der Rest des Textes und die Fußnoten finden hier.

„Moralischer Druck auf Schwangere“

Pro Femina eröffnet eine Beratungsstelle für ungewollt Schwangere in Berlin. Dort werden Frauen nicht ergebnisoffen beraten, sagt Kirsten Achtelik. Interview durch Patricia Hecht in der taz vom 29.07.19

taz: Frau Achtelik, am Donnerstag soll eine Beratungsstelle für ungewollt Schwangere auf dem Kurfürstendamm in Berlin eröffnen. Sie unterstützen den Aufruf zur Gegenkundgebung. Warum?

Kirsten Achtelik: Die „Beratungsstelle“, die dort eröffnet wird, ist von Pro Femina, dieser Verein gehört zum Spektrum sogenannter Lebensschutzorganisationen. Hier werden ungewollt Schwangere also nicht ergebnisoffen, sondern mit dem Ziel beraten, dass sie das Kind bekommen. Anders als offizielle Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen stellt Pro Femina auch keine Beratungsscheine aus, die für Schwangerschaftsabbrüche hierzulande nötig sind.

Auf der Website geht es um ein Angebot für „Frauen im Schwangerschaftskonflikt“. Woher wissen Sie, dass Pro Femina nicht ergebnisoffen berät?

Zum einen wird nicht offengelegt, dass keine Beratungsscheine ausgestellt werden. Das ist ein großes Problem, weil Frauen damit rechnen können, sie wären bei einer offiziellen Stelle gelandet. Reporterinnen von Buzzfeed haben sich außerdem in den bereits existierenden Beratungsstellen von Pro Femina in München und Heidelberg undercover angeschaut, wie tatsächlich beraten wird. Das ist erschreckend. Dort wird moralischer Druck auf Schwangere aufgebaut, außerdem wird versucht, sie hinzuhalten, bis die Frist verstrichen ist, innerhalb der sie abtreiben können. Die Frau ist für diese Abtreibungsgegner*innen bei aller angeblichen Zuwendung eher das Instrument, um den Fötus zu retten.

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Von wegen für die Frau

In Deutschland gründen Abtreibungsgegner immer mehr sogenannte Beratungsstellen für Schwangere, deren Zweck allerdings ausschließlich in der Verhinderung von Abtreibungen besteht. In der Jungle World 31/2019.

Ungewollt Schwangeren, die die Schwangerschaft beenden wollen, werden in Deutschland viele unnötige Hürden in den Weg gelegt: Der Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs lässt Abtreibungen nur in Ausnahmefällen, bei medizinischen Indikationen oder nach Zwangsberatung und Reflektionszeit zu; Ärztinnen und Ärzten ist es auch nach der Reform des Paragraphen 219a verboten, im Internet über die von ihnen angebotenen Abbruchmethoden zu informieren.

In einigen Städten, auch in größeren, gibt es mittlerweile niemanden mehr, die oder der überhaupt Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Doch die »Lebensschutzbewegung« tut ihr Möglichstes, diese schwierigen Bedingungen weiter zu verschlechtern, beispielsweise mit Anzeigen gegen Ärztinnen, der Diffamierung von gesundheitspolitisch Aktiven als »Abtreibungslobby« und mit eigenen »Beratungsstellen«. In Berlin hat Anfang Juli eine solche »Beratungsstelle« eines Vereins namens »Pro Femina« eröffnet, die laut Eigenbeschreibung ungewollt Schwangere nach »den drei Grundprinzipien: Empathie, Respekt und Vertrauen« berät.

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„Wir brauchen keine teure Studie, die beweist, was wir schon wissen“

Zum Koalitionskompromiss beim Abtreibungsrecht gehört eine Studie zu psychischen Folgen nach Schwangerschaftsabbrüchen. Sozialforscherin Kirsten Achtelik erklärt, warum sie das für gefährlich hält. Interview von Milena Hassenkamp auf Spiegel Online vom 15.02.2019

An diesem Freitag wurde der Gesetzentwurf erstmals im Bundestag diskutiert, in der nächsten Woche geht er in den Rechtsausschuss. Sozialwissenschaftlerin Kirsten Achtelik verfolgt den Prozess mit Sorge:

SPIEGEL ONLINE: An diesem Freitag wurde im Bundestag der Kompromiss zur Veränderung des Paragrafen 219a erstmals diskutiert. Was halten Sie von dem Kompromiss?

Kirsten Achtelik: Es ist ein winzig kleiner Fortschritt, dass die Ärzte auf ihren Internetseiten darüber informieren können, dass sie Abbrüche vornehmen. Der Nachteil ist, dass die Information über die Methode explizit verboten ist.

SPIEGEL ONLINE: Zum Kompromiss gehört eine Studie zu den möglichen Folgen von Schwangerschaftsabbrüchen, die Gesundheitsminister Jens Spahn in Auftrag geben will. Sie halten diese Studie für falsch. Warum?

Achtelik: Wir brauchen keine teure Studie, die beweist, was wir schon wissen. Es gibt international genügend Untersuchungen, die zeigen, dass die meisten Frauen nach Abbrüchen erleichtert sind. Die Studien, die überprüfen, ob es das sogenannte Post Abortion Syndrom gibt, haben alle gezeigt: Das Syndrom existiert nicht. Für den deutschen Kontext halte ich die Studie „Frauenleben 3“, die die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2016 veröffentlicht hat, für völlig ausreichend. Da stehen einige Empfehlungen drin, die bis heute nicht umgesetzt worden ist. Zum Beispiel zur besseren Vereinbarkeit des Wunsches, arbeiten zu gehen und Kinder zu bekommen.

SPIEGEL ONLINE: Was halten Sie an der Studie für gefährlich?

Achtelik: Wenn am Ende herauskommt, dass Frauen keine negativen Folgen spüren, dann ist es halt im schlimmsten Falle rausgeschmissenes Geld. Aber die fünf Jahre, während die Studie läuft, steht im Raum, dass es Forschungs- und Handlungsbedarf gibt. Damit wird dieser Topos weiter festgesetzt, und militante Abtreibungsgegner können das Bild etablieren, dass Frauen bei Abtreibungen zu einem „zweiten Opfer“ werden. Je tabuisierter Abtreibungen sind, desto schwieriger ist es für die Ärzte und Ärztinnen, sie anzubieten. Der Artikel 218 im Strafgesetzbuch sorgt dafür: Abtreibung ist nicht legal, sondern nur straffrei.

SPIEGEL ONLINE: Hat ein Schwangerschaftsabbruch keine negativen Folgen für eine Frau?

Achtelik: Natürlich sind manche Frauen traurig danach. Und denken auch manchmal daran. Aber an etwas zu denken heißt ja nicht, dass man traumatisiert ist. Der Diskurs hat sich da aber verselbstständigt: Ich kann es wirklich nicht mehr lesen: „Keine Frau macht sich das leicht“. Warum soll sie sich das überhaupt schwer machen? Man muss auch sagen können: Es gibt Frauen, für die es nicht schwer ist. Die Betonung, dass eine Frau es sich nicht leicht machen darf, suggeriert, dass ein Abbruch negative Folgen hat. Damit tun sich auch frauenpolitisch Aktive keinen Gefallen.

SPIEGEL ONLINE: Warum wird die Studie dann überhaupt in Auftrag gegeben?

Achtelik: Die CDU fürchtet, den Markenkern ihrer Partei zu verlieren. Deswegen will sie ihren vermeintlichen Kern betonen: Das Christliche und den Schutz des „ungeborenen Lebens“. Da darf aus deren Sicht auf keinen Fall etwas liberalisiert werden – zumindest nicht über einen bestimmten Punkt hinaus.