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»Opfer werden immer noch stigmatisiert«

Ein Gespräch mit der Anwältin und Autorin Christina Clemm in Jungle World 26/2020

Christina Clemm ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin. Im März ist ihr Buch »AktenEinsicht. Geschichten von Frauen und Gewalt« (Antje Kunstmann Verlag) erschienen, in dem sie Einblicke in ihre Arbeit und das Funktionieren der Strafverfolgung gibt.

Sie sind Strafverteidigerin und Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistischer Gewalt. Es wurde befürchtet, dass durch die Ausgangsbeschränkungen in der Covid-19-Pandemie die Zahl häuslicher Gewalttaten deutlich steigt. Ist das bereits in Ihrer Kanzlei angekommen?

Wir haben sehr viele Anfragen, aber ich weiß nicht, ob das allein auf Corona zurückzuführen ist. Ich befürchte, es wird noch etwas dauern, bis die Betroffenen aus der Zeit der Ausgangsbeschränkungen zu uns kommen. Der Schritt zu einer Anwältin ist selten der Anfang, meist braucht es zunächst Zeit und Beratung.

Sie schildern in Ihrem Buch sehr unterschiedliche Fälle, von extrem rechter Gewalt über Partnerschaftsgewalt und Kindesmissbrauch bis zu Gewalt durch Polizisten. Nach welchen Kriterien haben Sie die Fälle ausgewählt?

Ich wollte die Diversität der Fälle aufzeigen, darstellen, dass geschlechtsspezifische Gewalt alle Frauen betrifft, egal welcher sozialen Herkunft. Ich wollte auch sichtbar machen, dass es schlichtweg falsch ist anzunehmen, Täter seien »die anderen«, die nichts mit der »Mehrheitsgesellschaft« zu tun hätten, so wie es etwa rassistisch konnotiert nach der Kölner Silvesternacht 2015/2016 diskutiert wurde. Geschlechtsspezifische Gewalt ist ein immanenter Bestandteil einer patriarchalen Gesellschaft, es geht bei Gewaltanwendung immer um Machterhalt und die Aufrechterhaltung struktureller Ungleichheiten. Es gibt besonders vulnerable Gruppen, wie transgeschlechtliche Personen, Menschen, bei denen ein Migrationshintergrund unterstellt wird, oder Frauen mit Beeinträchtigungen. Diese kommen allerdings nicht alle explizit vor, das hätte den Rahmen gesprengt. Ich höre oft über mein Buch, dass das ja wohl besonders krasse Geschichten seien, aber das stimmt nicht. Ich schildere alltägliche Beispielfälle, damit Leute endlich verstehen, was passiert, und auch um Betroffenen zu zeigen, dass man aus einer Gewaltsituation wieder rauskommen kann.

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