Redebeitrag für das Gen-ethische Netzwerk auf der „behindert und verrückt feiern“ Pride Parade
Liebe Leute,
die Diskussionen um Behinderung und Pränataldiagnostik haben im vergangenen Jahr zugenommen. Schon letztes Jahr hätte der „Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen“ hier vor dem Südblock beinahe die Glitzer-Krücke gewonnen, weil er das Verfahren eingeleitet hat zu überprüfen, ob der „Praenatest“ von den Krankenkassen finanziert werden soll. Mit dem Test kann anhand des Bluts der schwangeren Frau bereits ab der neunten Schwangerschaftswoche getestet werden, ob bei dem werdenden Kind eine Trisomie wie beispielsweise das Down Syndrom vorliegt.
Wenn das beschlossen werden sollte, wird es noch normaler, vor der Geburt nach „Abweichungen“ und Behinderungen des Fötus zu suchen. Auch ist nicht absehbar auf welche vermeintlichen Behinderungen der Test noch ausgeweitet wird: Sehr wahrscheinlich ist es, dass genetische Inter/*geschlechtlichkeit (also wenn die Gene nicht eindeutig männlich oder weiblich sind), auch bald schon in die Regelversorgung aufgenommen würde – die Tests darauf gibt es bereits! Aber noch ist nichts entschieden und wir können politisch Druck machen, damit das nicht passiert!
In den öffentlichen und medialen Debatten um Pränataldiagnostik und die neuen Bluttests auf Trisomien ist zu viel von „ungeborenem Leben“ und zu wenig von Behindertenfeindlichkeit die Rede. An pränataler Diagnostik kritisieren wir den selektiven Blick mit dem Kinder und Erwachsene gesehen werden, die mit Behinderung leben. Dieser Blick sagt „das muss doch heute nicht mehr sein“.
Die meisten Untersuchungsangebote bewirken keine Verbesserung der medizinischen Versorgung der Schwangeren oder des werdenden Kindes. Aus den Ergebnissen der Tests ergeben sich keine Therapiemöglichkeiten. Die Diagnosen stellen lediglich die – eigentlich bereits getroffene – Entscheidung für das werdende Kind in Frage. Die pränatale Suche nach genetischen Merkmalen ist eben keine Vorsorgeuntersuchung für Schwangere, bei der nach medizinisch behandelbaren Problemen geschaut wird, sondern eine selektive Fahndung nach unerwünschten Abweichungen von der Norm.
Dies vermittelt ein problematisches Bild von Behinderung, als wäre eine Behinderung automatisch mit Leiden, Schmerzen und Belastungen verbunden und müsste auf jeden Fall vermieden werden.
Die Normalisierung dieser selektiven pränatalen Untersuchungen macht es schwierig, sich diesen „Angeboten“ zu entziehen. Schwangere Personen fühlen sich verpflichtet, möglichst alle Untersuchungen machen zu lassen, um das vermeintlich Beste für ihr werdendes Kind zu tun. Ängste vor Behinderung werden durch diese „Angebote“ eher geschürt als abgebaut. Aus diesem Grund gehört die selektive PND insgesamt auf den Prüfstand.
Wir finden: Die selektive Suche nach vermeintlichen Abweichungen oder Behinderungen ist behindertenfeindlich und sollte nicht weiter ausgedehnt werden!
Manche Feminist*innen verstehen diese Untersuchungen als Ausweitung der Selbstbestimmung von Frauen*. Mit den Ergebnissen pränataler Untersuchungen könnten sie besser entscheiden, was gut für sie ist. Sie werfen feministischen Kritiker*innen pränataler Untersuchungen vor, eine Brücke zu den „Lebensschützern“ zu bauen, von denen man sich doch maximal abgrenzen müsse.
Feministinnen mit und ohne Behinderung fordern ein Recht auf Entscheidungen über den eigenen Körper für jede Person ein. Niemand soll mit Strafgesetzen, Zwangsberatung, „Gehsteigberatung“ oder sonstigen Maßnahmen dazu gebracht werden, schwanger zu sein, wenn sie es nicht will. Es muss ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch geben. Aber es gibt kein Recht auf ein „gesundes“ Kind.
In einer von vielfältigen Herrschaftsverhältnissen durchzogenen Welt ist der bloße Ruf nach Selbstbestimmung ein stumpfes Schwert. Maximal abgrenzen von rechten und reaktionären Tendenzen können wir uns nur, indem wir alle Herrschaftsverhältnisse angreifen, die Menschen aussondern, verächtlich machen und unterdrücken!