Die immer stärkere Profitorientierung der Pflegebranche schadet dem Personal und den Pflegebedürftigen. Kommentar in der Jungle World vom 22.07.2021
Niemand möchte sich vorstellen, im Alter oder bei vorher eintretender Pflegebedürftigkeit nur noch mit dem Nötigen, also »satt und sauber« versorgt zu werden – dennoch ist das die Realität für sehr viele Menschen. Wer nur über ein mittleres oder niedriges Einkommen verfügt, hat wegen der Profitorientierung der Branche immer weniger Möglichkeiten, das zu vermeiden.
Internationale Konzerne und Finanzinvestoren machen mit Pflegeheimen mittlerweile ein Milliardengeschäft. In Spanien sind bereits mehr als 80 Prozent aller Pflegeeinrichtungen in der Hand privater Unternehmen, in Großbritannien sind es 76, in Deutschland 43 Prozent; das ergaben Recherchen des journalistischen Verbunds Investigate Europe. Für die Aktienbesitzenden ist das ein lohnendes Geschäft – der Marktführer Orpea beispielsweise hat seinen Aktienkurs seit 2015 verdoppelt –, für die zu Pflegenden und die Pflegekräfte allerdings eher nicht. Lohnkürzungen, Verhinderung von Betriebsratsgründungen, Unterbesetzung der Stationen, Pflegeaufgaben, die nicht mehr erledigt werden können – die Liste der Beschwerden ist lang.
Unter »Satt und sauber«-Versorgung stellen sich die meisten nicht Betroffenen vor, versorgt zu werden ohne Extras wie menschliche Zuwendung oder Zeit für ein Gespräch. Das ist als jahrelange Aussicht schlimm genug, gemessen an der Realität jedoch eine naive Erwartung. An zeitaufwendiges Essen- und Getränkeanreichen darf man dabei nämlich nicht unbedingt denken. Menschen mit Nährstoffen per Infusion zu versorgen und die Abfallstoffe per Katheter zu entsorgen, ist effizienter, und, so zynisch es klingen mag, durchaus nicht ungebräuchlich. Zusätzlich erhalten die Gepflegten Medikamente, die unter besseren Umständen nicht nötig wären, unter den gegebenen aber für störungsfreie Abläufe sorgen. Wenn immer mehr eingespart wird, die Menschen aber versorgt werden müssen, erscheinen solche effizienzsteigernden Maßnahmen auch im Sinne der Betreuten gerechtfertigt.
Das sind mittlerweile normale Bedingungen in vielen Pflegeeinrichtungen. Was aber im schlimmsten Fall passieren kann, hat man während der Unwetterkatastrophe in der vergangenen Woche gesehen: Zwölf Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung sind in einem Heim der Lebenshilfe im rheinland-pfälzischen Sinzig ertrunken. Die Lebenshilfe Kreis Ahrweiler teilt auf ihrer Website mit, die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtung seien »von den dramatisch schnell ansteigenden Fluten der Ahr im Erdgeschoss überrascht« worden. Das nahe der Ahr gelegene Heim mit 34 Wohnplätzen war anscheinend nur mit einer Nachtwache besetzt; wann die Heimleitung über die drohende Überschwemmung informiert wurde, ist noch unklar.
Ulla Schmidt, die Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe und ehemalige Bundesgesundheitsministerin, sprach von einer »fürchterlichen Tragödie« und einer »ungeahnten Flut«. Das Ereignis wird als ein Teil einer Naturkatastrophe behandelt: Es ist tragisch, schlimm, bedauerlich, aber eben auch nicht zu ändern. In den offiziellen Stellungnahmen ist von einer Suche nach Verantwortlichen keine Rede, es gibt keine Andeutung, dass die Rettungsprotokolle überarbeitet oder das nächtliche Personal aufgestockt werden könnten. Menschen mit Behinderung wiesen dagegen auf die unterschiedlichsten Situationen hin, bei denen es für sie im Unglücksfall keinen Rettungsplan gegeben hätte – es waren viele.
In den Beileidsbekundungen geht es vor allem um die Angehörigen oder die traumatisierten Beschäftigten, fast nie um die anderen Bewohner und Bewohnerinnen, die ihre Nachbarn und vielleicht Freunde verloren haben und traumatisiert sind von der Vorstellung, es hätte ganz leicht auch sie selbst erwischen können. Menschen, die pflegebedürftig sind, sind sogar bei einer solchen Katastrophe nur Beiwerk, die Hauptrolle spielen immer die Gesunden und nicht Behinderten.