Eine kritische Nachbetrachtung der Gedenkveranstaltungen zum 9. November im nd vom 11.11.23
85 Jahre nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 ist offenes jüdisches Leben in Deutschland wieder massiv in Gefahr. In den vergangenen Wochen wurden Synagogen und jüdische Friedhöfe angegriffen, Häuser mit Davidsternen markiert und Poster mit den Namen und Gesichtern der nach Gaza verschleppten Geiseln abgerissen und beschmiert. Jüd*innen vermeiden es, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen und Orte jüdischen Lebens aufzusuchen.
Das Versprechen »Nie wieder!«, das alljährlich am 9. November erneuert wird, galt nie absolut. Das offizielle Gedenken war eher eine Pflichtveranstaltung für den guten Ruf im Ausland als eine tatsächliche Auseinandersetzung mit antisemitischen und anderen menschenfeindlichen Tendenzen.
Diesmal hat der Jahrestag der Reichsprogramnacht eine besondere Bedeutung. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel, bei dem 1400 Menschen ermordet wurden, war erst gut einen Monat her. 240 Geiseln hat die Hamas seitdem in ihrer Gewalt, darunter auch Kleinkinder. Israel wird weiterhin täglich mit Raketen beschossen, wegen der andauernden Gefahr mussten bislang über 250 000 Israelis ihr Zuhause verlassen.
Raketen auf Israel? In der Berichterstattung spielt das kaum eine Rolle, das Interesse hat sich auf den Krieg im Gazastreifen und die dortigen Opfer verlagert. Viel zu häufig wird Israel dabei als Aggressor dargestellt. Die Zäsur, die das Pogrom des 7. Oktober bedeutet, scheint bereits in den Hintergrund zu gleiten. An keinem anderen Tag seit der Shoah wurden so viele jüdische Menschen ermordet. Das Land, das Jüd*innen Zuflucht vor Pogromen und Angriffen verspricht, fühlt sich nicht mehr sicher an. Israels Recht auf Selbstverteidigung wird angezweifelt und relativiert.