Kirsten Achtelik kritisiert die Idee, Menschenrechte auf Föten auszudehnen. Was das Thema Abbruch bei Behinderung betrifft, müssten Feministinnen aber genauer hinsehen. Interview Vanessa Gaigg Der.Standard, 12. Oktober 2019
STANDARD: Die Organisatoren vom Marsch fürs Leben
fordern etwa: „Jeder Mensch, ganz gleich wie alt oder jung, groß oder
klein, stark oder schwach, hat dasselbe Recht auf Leben.“ Da kann man
nicht unbedingt widersprechen, oder?
Kirsten Achtelik: Dahinter steckt die Ansicht, dass
bereits beim Verschmelzen von Ei- und Samenzelle ein Mensch entstanden
sei. Die Bewegung versucht so, die herkömmliche Idee der Menschenrechte
auf Föten auszudehnen. So werden zwei vermeintliche Akteure
gegeneinander ausgespielt, das „ungeborene Leben“ und die schwangere
Person. Allein mit ihrem Namen versuchen die sogenannten Lebensschützer
sich als die moralisch korrekte Bewegung darzustellen. Denn wer kann
schon was dagegen haben, wenn man für das Leben ist? Sie versuchen ein
Spektrum zu besetzen, in dem man gar nicht widersprechen kann.
STANDARD: Sind sie damit erfolgreich?
Achtelik: Teilweise. Der Sprachgebrauch ist relativ
weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Auch
Mainstream-Zeitungen oder Hebammen sprechen von „ungeborenem Leben“ –
ohne zu reflektieren, dass es sich dabei um keine neutrale Sprache
handelt. Die Debatte über Leben ist aber auch eine, die durch technische
Fortschritte befeuert wurde: Wenn man in den Körper der Schwangeren
reinschauen kann, niedliche Bilder und 3D-Ausdrucke produziert werden,
dann verschwimmt das Baby mit dem Fötus in der allgemeinen Wahrnehmung.
Aber der Erfolg der sogenannten Lebensschützer hat natürlich Grenzen, da
es sich um eine christlich-fundamentalistische Bewegung handelt und
nicht alle Projekte mehrheitsfähig sind.
STANDARD: Ist es wirklich gerechtfertigt, von Fundamentalisten zu sprechen?
Achtelik: Es ist eine religiöse, keine rein
politische Bewegung. Und in ihrer Religiosität ist sie sehr konservativ
und beruft sich auf eine Auslegung der Bibel, die als fundamentalistisch
definiert werden kann: Sie geht von einem Bild von heterosexuellen
Männern und Frauen aus, die sich in der Ehe zum Zweck des Kinderkriegens
verpartnern. Alle anderen Begehren und Formen des Zusammenlebens werden
ausgegrenzt. Es gibt Vernetzungen zu Initiativen gegen die Ehe für alle
oder zu sogenannten Homoheilern. Das Kerngeschäft ist aber tatsächlich
der Schutz des Lebens von Anfang bis Ende. Also auch Sterbehilfe wird
stark kritisiert und als Euthanasie bezeichnet.
STANDARD: Immer wieder tauchen auf Demonstrationen
auch Plakate mit Begriffen wie „Babycaust“ auf. Hat die Gleichsetzung
mit NS-Begrifflichkeiten dort Tradition?
Achtelik: Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal
der sogenannten Lebensschützer. Gleichsetzungen wie diese nehmen
allgemein zu. Was Dinge wie den „Babycaust“ betrifft: Da fahren
verschiedene Strömungen verschiedene Strategien. Die einen versuchen,
Frauen als zweites Opfer einer Abtreibung zu stilisieren – dafür wurde
etwa das „Post-Abortion-Syndrom“ erfunden. Die anderen versuchen die
totale Skandalisierung und setzen Abtreibung nicht nur mit Mord, sondern
auch mit Genozid gleich. Da sind nicht nur die Ärzte, sondern auch die
Frauen Mörderinnen. Und in dieser extremen Gedankenwelt ergibt das auch
Sinn: Glaubt man wirklich, dass bei jeder Abtreibung ein Baby ermordet
wird, dann kommt man tatsächlich zum Schluss, dass es mehr Opfer gibt,
als der Holocaust gefordert hat. Die Leugnung der Singularität des
Holocaust und der organisierten Vernichtung wird dabei zumindest in Kauf
genommen.
STANDARD: Die Bewegung gibt sich auch als Anwalt von
Behinderten, wenn sie beispielsweise gegen die Möglichkeit von
Spätabbrüchen bei bestimmten Diagnosen mobilmacht, wie etwa die
österreichische Initiative Fairändern. Treffen sie hier auf eine
Leerstelle des Feminismus?
Achtelik: Hier wird versucht, die Fristenregelung
über die Hintertür anzugreifen. Aber nicht alle Kritikpunkte sind an den
Haaren herbeigezogen: Es ist leicht, sich als Vertreter der
„Schwächsten der Schwachen“, wie Föten mit Behinderung von der Bewegung
gerne genannt werden, hinzustellen, wenn es ein gesamtgesellschaftliches
Tabu bei dem Thema gibt. Es ist tatsächlich ein Problem, wenn
Feministinnen sich hauptsächlich auf Selbstbestimmung und „Mein Bauch
gehört mir“ berufen, ohne genauer hinzusehen. Nämlich wie es sich damit
verhält, wenn man sich schon dazu entschlossen hat, ein Kind zu bekommen
– und nach einer Diagnose dann die Meinung kippt. Das ist auch
psychologisch schwieriger, denn dann wird aus einem gewollten ein
ungewolltes werdendes Kind.
STANDARD: Aber wie kann man beide Interessen zusammenbringen?
Achtelik: Indem man deutlich macht, dass die
pränatale Suche nach Behinderung problematisch und ein
gesellschaftliches Problem ist. Wir müssen darüber diskutieren, warum
diese Tests gemacht werden und warum es gesellschaftlich so schwierig
gemacht wird, ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Gleichzeitig muss
man als Feministin aber immer sagen, dass die letzte Entscheidung bei
der Frau liegen muss. Man kann niemanden dazu zwingen, ein Kind zu
bekommen.