Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft, Heft 2-2019, S. 40-53
Wenn heute Rückschau gehalten wird auf die Auseinandersetzungen über Pränataldiagnostik (PND) und Abtreibung zwischen der Behindertenbewegung und der Frauenbewegung in der Bundesrepublik der 1980er-Jahre, wird oft auf das extrem polarisierende Interview in der Zeitschrift konkret mit AktivistInnen beider Bewegungen verwiesen, das 1989 unter dem Titel „Krüppelschläge“ veröffentlicht wurde (Christoph et al. 1989).1 Meist wird dann von einem zerstörten Verhältnis und unüberbrückbaren Gegensätzen ausgegangen. Diese Bewertung geht von der impliziten Annahme aus, dass sich ganze Bewegungen miteinander solidarisch verhalten müssten. Für realistischer und produktiver halte ich es, Bewegungsströmungen auf ihre Potenziale zu bewegungsübergreifender, intersektionaler Solidarität zu befragen. Dies würde größere Möglichkeiten eröffnen, Bewegungen nicht als monolithisch, sondern als komplex, dynamisch und teilweise widersprüchlich begreifen zu können. Beim Ringen um bewegungsinterne Bedeutungsmacht kann die Ausweitung eines bestehenden Bewegungskonsenses allerdings als Aufkündigung der bisherigen bewegungsinternen Solidarität und somit als Verrat abgewehrt werden.
Im Folgenden werde ich schlaglichtartig die Frage untersuchen, wie Solidarität innerhalb und zwischen verschiedenen Bewegungen funktionieren kann. Dazu werde ich zunächst aus dem mannigfaltigen Gebrauch des Solidaritätsbegriffs eine Konzeptionalisierung entwickeln, die die zwischen Behinderten- und Frauenbewegung relevanten Aspekte von Solidarität begreifbar macht. Die Grundlage der anschließenden Analyse bildet ein Abriss der Bewegungsgeschichte beider Bewegungen. Auf dieser Basis werden im Mittelpunkt meines Beitrags vier Texte analysiert, die zwischen den beiden feministischen Kongressen gegen Reproduktionstechnologien ab Mitte der 1980er-Jahre entstanden sind. Diese eignen sich besonders, um exemplarisch unterschiedliche Herangehensweisen an Solidarität zu illustrieren. Dadurch soll die bisher unterbelichtete Dynamik zwischen verschiedenen randständigen Bewegungsströmungen beleuchtet und mit Blick auf die Möglichkeiten bewegungsübergreifender intersektionaler Solidarität diskutiert werden.
Welche Solidarität?
Der Begriff der Solidarität wird in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich verwendet, auch unter Soziolog*innen gibt es keine einheitliche Definition. Dies ist bei lange und in unterschiedlichen Kontexten verwendeten Containerbegriffen nicht ungewöhnlich. Eine umfassende Darstellung der unterschiedlichen soziologischen Konzepte hat Kurt Bayertz (1998) vorgelegt. Er unterscheidet vier Verwendungsweisen des Solidaritätsbegriffs: als allgemeine Brüderlichkeit, als Bindemittel der gesellschaftlichen Einheit, als Begründung für sozialstaatliche Leistungen und als Kampfbegriff sozialer Bewegungen, wobei er nur die beiden letzteren als nachvollziehbare Bedeutungsvarianten gelten lässt (ebd., 49). Solidarität als Kampfbegriff sozialer Bewegungen ist das für meine Untersuchung sinnvollste Konzept. Diese Solidarität zeichnet sich durch „die Bereitschaft eines Individuums oder einer Gruppe (aus), einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe bei der Durchsetzung seiner oder ihrer Rechte zu helfen“ (ebd.). Ähnliche Interessen reichen, Bayertz zufolge, als Motivation nicht aus (ebd., 45), vielmehr braucht es ein gemeinsames Anliegen, ein als gerecht wahrgenommenes Ziel. Welches Ziel einer Gruppe oder Bewegung jedoch als gerecht und dringlich erscheint, ist nicht von vorneherein festgelegt, sondern Resultat von Aushandlungsprozessen. Der Erfolg des Solidaritätsappells hängt dabei von der Bedeutung der thematisierten Werte und Solidaritätsziele in der internen Struktur des Wertesystems der Zielgruppe ab (Baringhorst 1998, 19). Diese Werte dürfen den Interessen der Adressat*innen nicht widersprechen, da sie sonst Abwehr statt Zustimmung auslösen. Die Abwehr eines bewegungsinternen Appells an die Solidarität geht häufig mit dem Vorwurf des Verrats an den eigentlichen Zielen und Werten einer Bewegung einher. mehr … Eingeschränkte Solidarität – Feminismus zwischen Ableism und Intersektionalität